Drei Minuten Gehör!
Drei Minuten Gehör will ich von euch, die ihr arbeitet-!
Von euch, die ihr den Hammer schwingt,
von euch, die ihr auf Krücken hinkt,
von euch, die ihr die Feder führt,
von euch, die ihr die Kessel schürt,
von euch, die mit treuen Händen
dem Manne ihre Liebe spenden –
von euch, den Jungen und den Alten – :
Ihr sollt drei Minuten inne halten.
Wir sind ja nicht unter Kriegsgewinnern.
Wir wollen uns einmal erinnern:
Die erste Minute gehöre dem Mann.
Wer trat vor Jahren in Feldgrau an?
Zu Hause die Kinder – zu Hause weint Mutter…
Ihr: feldgraues Kanonenfutter -!
Ihr zogt in den lehmigen Ackergraben.
Dort saht ihr keinen Fürstenknaben:
der soff sich einen in der Etappe
und ging mit den Damen in die Klappe.
Ihr wurdet geschliffen. Ihr wurdet gedrillt.
Wart ihr noch Gottes Ebenbild?
In der Kaserne – im Schilderhaus
wart ihr niedriger als die schmutzigste Laus.
Der Offizier war eine Perle,
aber ihr wart nur „Kerle“!
Ein elender Schieß- und Grüßautomat.
„Sie Schwein! Hände an die Hosennaht -!“
Verwundete mochten sich krümmen und biegen:
kam ein Prinz, dann hattet ihr stramm zu liegen.
Und noch im Massengrab wart ihr die Schweine:
Die Offiziere lagen alleine!
Ihr wart des Todes billige Ware…
So ging das vier lange blutige Jahre.
Erinnert ihr euch?
Die zweite Minute gehöre der Frau.
Wem wurden zu Hause die Haare grau?
Wer schreckte, war der Tag vorbei,
in den Nächten auf mit einem Schrei?
Wer ist es vier Jahre hindurch gewesen,
der anstand in langen Polonaisen,
indessen Prinzessinnen und ihre Gatten
alles, alles, alles hatten – -?
Wem schrieben sie einen kurzen Brief,
dass wieder einer in Flandern schlief?
Dazu ein Formular mit zwei Zetteln…
Wer musste hier um die Renten betteln?
Tränen und Krämpfe und wildes Schrein.
Er hatte Ruhe. Ihr wart allein.
Oder sie schickten ihn, hinkend am Knüppel,
euch in die Arme zurück als Krüppel.
So sah sie aus, die wunderbare
Große Zeit – vier lange Jahre…
Erinnert ihr euch -?
Die dritte Minute gehört den Jungen!
Euch haben sie nicht in die Jacken gezwungen!
Ihr wart noch frei! Ihr seid heute frei!
Sorgt dafür, dass es immer so sei!
An euch hängt die Hoffnung. An euch das Vertraun
von Millionen deutschen Männern und Fraun.
Ihr sollt nicht strammstehen. Ihr sollt nicht dienen!
Ihr sollt frei sein! Zeigt es ihnen!
Und wenn sie euch kommen und drohn mit Pistolen -:
Geht nicht! Sie sollen euch erst mal holen!
Keine Wehrpflicht! Keine Soldaten!
Keine Monokel- Potentaten!
Keine Orden! Keine Spaliere!
Keine Reserveoffiziere!
Ihr seid die Zukunft!
Euer das Land!
Schüttelt es ab, das Knechtschaftsband!
Wenn ihr nur wollt, seid ihr alle frei!
Euer Wille geschehe! Seid nicht mehr dabei!
Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg!
– Nie wieder Krieg -!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Drei Minuten Gehör!“ von Kurt Tucholsky ist ein leidenschaftlicher, politischer Aufruf an die arbeitende Bevölkerung, sich des Grauens und der Ungerechtigkeit des Ersten Weltkriegs zu erinnern – mit dem Ziel, zukünftige Kriege zu verhindern. In drei symbolischen Minuten richtet sich der Sprecher nacheinander an Männer, Frauen und die Jugend, um kollektives Gedächtnis, Schmerz und Verantwortung wachzurufen.
In der ersten Minute wird den einfachen Soldaten gedacht, die als „feldgraues Kanonenfutter“ in die Schützengräben geschickt wurden. Tucholsky zeichnet ein bitteres Bild der militärischen Hierarchie: Während Fürsten und Offiziere in der Etappe lebten, feierten und Sonderrechte genossen, wurden die einfachen Männer entmenschlicht, beleidigt, gedrillt und letztlich im Massengrab verscharrt – getrennt von ihren Vorgesetzten, selbst im Tod. Diese Darstellung ist eine schonungslose Abrechnung mit dem Militarismus und der Standesgesellschaft, die Menschenleben billig opferte.
Die zweite Minute gehört den Frauen, die in der Heimat litten: Allein mit Angst, Trauer, Versorgungslast und später dem sozialen Abstieg. Tucholsky hebt die Kluft zwischen dem Elend der Massen und dem Luxus der Herrschenden hervor – ein Muster, das sich auch in der Kriegsberichterstattung und Erinnerungskultur widerspiegelte. Frauen mussten nicht nur Verlust und Leid tragen, sondern später auch für kümmerliche Renten kämpfen oder sich mit zurückkehrenden Kriegsversehrten abfinden.
In der dritten Minute richtet sich der Blick nach vorn – auf die Jugend, die (noch) nicht im Krieg verheizt wurde. Hier schlägt das Gedicht in einen kämpferischen, fast prophetischen Ton um. Tucholsky appelliert an den freien Willen der Jungen, sich nicht wieder in Uniform zwingen zu lassen. Sein Aufruf ist deutlich antimilitaristisch: Keine Wehrpflicht, keine Offiziere, keine Orden – stattdessen Selbstbestimmung, Freiheit und ziviler Widerstand gegen jeden neuen Kriegsversuch.
„Drei Minuten Gehör!“ ist ein Gedicht von großer politischer Dringlichkeit. Es vereint Trauer, Empörung und Hoffnung in einem klaren Appell: Nie wieder Krieg. Die eindringliche Sprache, die rhetorischen Wiederholungen und die direkte Ansprache der Leser verstärken die Wirkung. Tucholsky schafft es, Erinnerung mit Verantwortung zu verbinden – und ruft dazu auf, aus der Geschichte zu lernen, bevor sie sich wiederholt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.