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Jugend-Bildnis meines Vaters

Von

Im Auge Traum. Die Stirn wie in Berührung
mit etwas Fernem. Um den Mund enorm
viel Jugend, ungelächelte Verführung,
und vor der vollen schmückenden Verschnürung
der schlanken adeligen Uniform
der Säbelkorb und beide Hände -, die
abwarten, ruhig, zu nichts hingedrängt.
Und fast nicht mehr sichtbar: als ob sie
zuerst, die Fernes greifenden, verschwänden.

und alles andere mit sich selbst verhängt
und ausgelöscht als ob wirs nicht verständen
und tief aus eigener Tiefe trüb -.
Du schnell vergehendes Daguerreotyp
in meinen langsamer vergehenden Händen.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Jugend-Bildnis meines Vaters von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Jugend-Bildnis meines Vaters“ von Rainer Maria Rilke ist eine subtile Auseinandersetzung mit dem Wesen der Erinnerung, der Vergänglichkeit und der Beziehung zwischen Vater und Sohn. Es entwirft das Bild eines jungen Mannes, des Vaters des Dichters, in einer Momentaufnahme, die sowohl die flüchtige Schönheit der Jugend als auch die unausweichliche Auflösung dieser Schönheit in der Zeit festhält. Die Wahl des „Daguerreotyp“ im letzten Vers verweist auf die alte fotografische Technik, die für ihre Detailgenauigkeit und gleichzeitige Unbeständigkeit bekannt ist, und verstärkt so den Eindruck der Vergänglichkeit.

Die ersten Strophen beschreiben das physische Erscheinungsbild des Vaters mit großer Sensibilität. Rilke konzentriert sich auf Merkmale, die Jugend, Träume und eine gewisse Distanziertheit andeuten: „Im Auge Traum“, „Stirn wie in Berührung mit etwas Fernem“ und „ungelächelte Verführung“. Diese Beschreibungen vermitteln den Eindruck einer Person, die in sich selbst gekehrt ist, möglicherweise vertieft in Tagträume oder von etwas Ungreifbarem angezogen wird. Die Erwähnung der Uniform und des Säbelkorbs deutet auf die adelige Herkunft und möglicherweise auf militärische Pflichten hin, doch der Fokus liegt auf der Ruhe und Passivität, die durch die „abwartenden“ Hände und die „nicht hingedrängte“ Haltung vermittelt wird. Diese Elemente lassen den Vater als eine Figur erscheinen, die sowohl von äußeren Umständen geprägt ist als auch eine tiefe innere Welt besitzt.

Der zweite Teil des Gedichts wendet sich dem Prozess der Erinnerung und dem Verlust zu. Die Sätze werden komplexer und die Sprache melancholischer. Die Beschreibung des „Auslöschens“ und der „trüben“ Tiefe des eigenen Wesens reflektiert das Gefühl des Dichters, dass die Vergangenheit und insbesondere die jugendliche Erscheinung des Vaters allmählich verblassen. Die Formulierung „und alles andere mit sich selbst verhängt“ impliziert eine Art von Geheimnis oder Unverständnis, das zwischen Vater und Sohn besteht, als ob der Vater seine inneren Gedanken und Erfahrungen mit sich selbst bewahrt, was es für den Sohn schwierig macht, sie vollständig zu verstehen.

Schließlich gipfelt das Gedicht in der direkten Ansprache des „schnell vergehenden Daguerreotyps“, der nun in den „langsamer vergehenden Händen“ des Sohnes liegt. Diese Zeile vereint die Thematik von Vergänglichkeit und Erinnerung. Das Bild des Vaters ist flüchtig wie ein Foto, doch es wird vom Sohn bewahrt, der im Laufe der Zeit langsam vergeht. Das Gedicht ist somit eine Meditation über das Verhältnis von Zeit, Erinnerung und dem Erbe, das ein Vater seinem Sohn hinterlässt – ein Vermächtnis, das sowohl Schönheit als auch Verlust beinhaltet. Die „langsamer vergehenden Hände“ des Sohnes halten das Bild des Vaters fest, wodurch die Verbindung zwischen den Generationen trotz des unausweichlichen Flusses der Zeit aufrecht erhalten wird.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.