Am Lietzensee
Die rote Sandsteinbrücke packt
Staubig die andere Seite vom schwärzlichen Tümpel.
Laternen. Das verirrte Mondlicht zackt
Über Sträucher und Wellen und träges Gerümpel.
Doch zu uns tönt der Abendschrei der Stadt.
Ich spüre noch die Lust der vielen Straßen
Und Trommelwirbel um Fortunas Rad.
Doch du stehst vor mir schläfrig und verblasen.
Feindselig reichst du mir die plumpe Hand,
Von neuem Zorn die starke Stirn betört.
Und als ich längst schon meinen Weg gerannt,
Hat alle Schritte noch dein Traum gestört.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Am Lietzensee“ von Jakob van Hoddis beschreibt eine melancholische und zugleich spannungsreiche Szene am Rande der Großstadt. Die „rote Sandsteinbrücke“ und der „schwärzliche Tümpel“ schaffen ein Bild von städtischer Tristesse und Vergänglichkeit. Die Natur ist von der Stadt überformt, und das „verirrte Mondlicht“ bricht sich an „Sträuchern“, „Wellen“ und „träge[m] Gerümpel“, was die Szenerie als brüchig und trostlos erscheinen lässt.
Im Hintergrund klingt die Stadt selbst nach: Der „Abendschrei der Stadt“ und der „Trommelwirbel um Fortunas Rad“ spiegeln das lärmende Leben der Metropole, das im Kontrast zur dumpfen, fast erstarrten Stimmung am See steht. Während das lyrische Ich die Rastlosigkeit der Straßen noch „spürt“, wirkt die angesprochene Person „schläfrig und verblasen“, fast abwesend und im Widerstand zu diesem urbanen Puls.
Die Beziehung zwischen den beiden Figuren ist von Kälte und Unverständnis geprägt. Die „plumpe Hand“ wird „feindselig“ gereicht, und ein „neuer Zorn“ legt sich auf die „starke Stirn“ des Gegenübers. Das lyrische Ich hat sich längst entfernt – „meinen Weg gerannt“ – doch die emotionale Belastung bleibt bestehen: Noch „stört“ der Traum der anderen Person alle weiteren Schritte, als würde der Konflikt nachwirken und das Ich auch im Gehen nicht freigeben.
„Am Lietzensee“ ist damit ein Gedicht über zwischenmenschliche Entfremdung im urbanen Raum. Die Stadt dient dabei als Kulisse und Spiegel für die innere Distanz der Figuren. Jakob van Hoddis verbindet in diesem Text expressionistische Großstadtbilder mit psychologischer Feinsinnigkeit und der Darstellung einer unterkühlten Beziehung.
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Lizenz und Verwendung
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