Hinter dem großen Spiegelfenster des Cafés
Sitz ich und sehe heiß auf das Straßenpflaster,
Suche im Treiben der Farben und Körper Heilung meines sentimentalen Wehs,
Sehe viele Frauen, Fremde, bunte Offiziere, Gauner, Japaner, sogar einen Negermaster.
Alle blicken sie zu mir und haben Sehnsucht nach der Musik im Innern,
Wollen träumerisch- und sanfter Töne sich erinnern.
Aber ich, an meinen Stuhl gebannt und gebrannt,
Starre, staune nach draußen unverwandt,
Daß jemand komme, freiwillig, nicht gedrängt,
Ein blondes Mädchen… eine braune Dirne…
In rosa, gelber, violetter Taille…
… Oder meinetwegen eine dicke Rentierkanaille
Mit schmalzigem, verfetteten Hirne –
Nur daß er mir für fünf Minuten seine Gegenwart schenkt!
Ich bin so einsam! Einsamer noch macht mich die süße Operette…
O läg ich irgendwo in dunkler Nacht
Ein Kind in einem Kinderbette,
Von einer Mutter zart zur Ruh gebracht…
Hinter dem großen Spiegelfenster…
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Hinter dem großen Spiegelfenster…“ von Klabund offenbart eine tiefe Einsamkeit und Sehnsucht nach menschlicher Verbindung, eingebettet in das pulsierende Leben einer Stadt. Der Dichter sitzt in einem Café und betrachtet das Treiben draußen, doch die Fülle der Menschen, die er sieht, kann seinen inneren Schmerz nicht lindern. Er sucht nach Heilung für sein „sentimentalen Wehs“ im bunten Spektakel der Welt, doch die Distanz, die das Spiegelfenster schafft, verstärkt nur sein Gefühl der Isolation.
Die Aufzählung verschiedener Charaktere – Frauen, Offiziere, Gauner, Japaner, ein Negermaster – unterstreicht die Vielfalt der urbanen Umgebung, doch die Menschen werden lediglich als Beobachtungsobjekte wahrgenommen. Sie scheinen alle eine Sehnsucht nach etwas zu haben, möglicherweise nach der Musik im Inneren des Cafés, die jedoch für den Dichter nicht von Bedeutung ist. Seine Aufmerksamkeit ist nach außen gerichtet, fixiert auf die Hoffnung, dass jemand in sein Leben tritt, sei es ein „blondes Mädchen“, eine „braune Dirne“ oder sogar eine „dicke Rentierkanaille“. Die Bandbreite der Personen, nach denen er sich sehnt, deutet darauf hin, dass es ihm nicht um die Person selbst geht, sondern um die Auflösung seiner Einsamkeit.
Die Verwendung von unkonventionellen Worten wie „Rentierkanaille“ und die Beschreibung der Personen als „bunt“ und „fremd“ zeigen eine gewisse Distanzierung und Ironie. Gleichzeitig offenbart die Sehnsucht nach jeglicher Gesellschaft, sei sie nun von edler oder zweifelhafter Natur, die Verzweiflung des lyrischen Ichs. Die Einsamkeit wird durch die süße Operette, die im Café gespielt wird, noch verstärkt, wodurch eine zusätzliche Schicht der Trostlosigkeit entsteht.
Der letzte Teil des Gedichts, in dem das lyrische Ich sich nach dem Zustand eines Kindes im Kinderbett sehnt, das von einer Mutter zur Ruhe gebracht wird, offenbart den Kern der Sehnsucht: nach Geborgenheit, Trost und bedingungsloser Liebe. Diese Vorstellung steht im krassen Gegensatz zur kalten Realität der Stadt und des Cafés. Das Gedicht endet mit einem tiefen, ungestillten Verlangen nach einer einfachen, uranfänglichen Form der menschlichen Nähe, das die Einsamkeit des Sprechers noch deutlicher macht.
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Lizenz und Verwendung
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