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Das Lied vom Dichter

Von

Was ein gerechter Dichter ist,
Macht Verse fast zu jeder Frist,
Er reitet seinen Pegasum
Und dichtet Alles um und um.

Darum wird er auch selten fett,
Denn morgens früh in seinem Bett,
Bevor ein Andrer kaum erwacht,
Hat er schon ein Sonett gemacht.

Terzinen werden eingestippt,
Wenn er den Blümchen-Kaffee nippt;
Verzehrt zum Frühstück er sein Ei,
Macht er ein Triolett dabei.

Und wenn er seine Suppe isst,
Er löffelweis‘ die Jamben misst,
Und wenn er seinen Braten kaut,
Im Geiste er Trochäen baut!

Thut weiter nichts in dieser Welt,
Darum hat er auch nie kein Geld!
Dies kümmert ihn zu keiner Frist,
Weil’s auch ein Stoff zum Dichten ist.

Hat er kein Bett, hat er kein Haus,
So macht er ein Gedicht daraus!
Hat er ein Loch im Rock, im Schuh
So stopft er es mit Strophen zu!

Nichts ist zu gross, nichts ist zu klein:
Er sperrt’s in seine Verse ein.
Nur was man nicht besingen kann,
Das sieht er als ein Neutrum an.

Der Frosch, der auf der Wiese hüpft,
Die Maus, die in ihr Löchlein schlüpft,
Der Käfer, der im Teich ersoff,
Sind alle miteinander „Stoff“.

Was kühn noch in die Lüfte strebt,
Was schon die Erde umgebebt,
Ob heil und ganz, ob kurz und klein –
In seinen Vers muss es hinein!

So zählt er seine Silben ab
Vergnügt bis an sein kühles Grab,
Und unter seinen letzten Band
Schreibt „finis“ hin des Todes Hand.

Was ein gerechter Dichter ist,
Benutzet auch die letzte Frist,
Macht eine Grabschrift noch zuvor
Und legt sich auf sein Dichterohr.

Die Leute stehen trauervoll
Dann um sein Grab und schauervoll.
Ein Jeder denkt sich, was er will,
Doch meist: „Gottlob, nun ist er still!“

Es wächst dann in der Jahre lauf
Dort eine Zitterpappel auf;
Und ob der Wind schläft oder wacht:
Die Blätter flüstern Tag und Nacht!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Das Lied vom Dichter von Heinrich Seidel

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Lied vom Dichter“ von Heinrich Seidel ist eine augenzwinkernde, satirisch-ironische Hommage an den „gerechten Dichter“ – ein Idealtypus des unermüdlich schreibenden, aber weltfremden Poeten. In pointierter Sprache, regelmäßigem Reimschema und leichtem Ton zeichnet Seidel das Bild eines Menschen, dessen gesamtes Dasein sich dem Verseschmieden widmet – mit allen komischen, bewundernswerten und tragischen Konsequenzen.

Der Dichter wird als Getriebener seiner eigenen Berufung dargestellt: Schon am frühen Morgen dichtet er Sonette im Bett, beim Frühstück entstehen Terzinen und Triolette, selbst das Mittagessen wird zur rhythmischen Kompositionsübung. Der Reimfluss und die formale Strenge des Gedichts spiegeln auf formaler Ebene das obsessive Handwerk des lyrischen Subjekts wider. Der Humor entsteht dabei aus der Übersteigerung der poetischen Tätigkeit, die jedes Alltagsdetail in Reimform zwingt.

Diese poetische Besessenheit hat jedoch auch eine soziale Kehrseite: Der Dichter bleibt arm, einsam, obdachlos – aber selbst darin sieht er nur „Stoff“ für seine Kunst. Seidel überzeichnet hier den romantischen Topos des leidenden, vom Alltag entrückten Künstlers, der sich mit Wortgewalt gegen die Trivialität des Lebens behauptet. Dabei ist die Verwandlung von Elend in Poesie gleichzeitig bewundernswert und absurd.

Auch der Tod hält den Dichter nicht vom Dichten ab. Noch vor dem eigenen Begräbnis verfasst er seine Grabschrift, und selbst nach seinem Ableben scheint seine dichterische Präsenz in der Natur zu überdauern – in Form der „Zitterpappel“, deren Blätter „Tag und Nacht“ flüstern. Die Pappel wird zum Symbol einer poetischen Nachwirkung, aber auch zur leisen Parodie auf das Pathos posthumer Verehrung. Denn der Schlussvers liefert eine ironische Pointe: Die trauernden Leute sind vor allem froh, dass der Vielschreiber nun endlich „still“ ist.

Seidels Gedicht spielt geschickt mit den Ambivalenzen des Dichterideals: Zwischen Verehrung und Spott, Bewunderung und Überdruss zeigt es die Weltfremdheit, aber auch die unermüdliche Kreativität des „wahren“ Dichters. Die übertriebene Hingabe ans Dichten wird als liebevolle Karikatur dargestellt – sie offenbart sowohl das Komische als auch das Tragische des künstlerischen Lebens.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.