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Großmutter

Von

Mit Ehrfurcht stand ich einst vor dir,
In einer ernsten Stunde;
Den Segen, fromm, erbat ich mir
Von deinem heil′gen Munde.
Du sahst nicht mehr, du hörtest kaum,
Kalt wurden deine Hände,
Und, sprachst du, war′s, als ob im Traum
Ein Toter Worte fände.

Du strichst die Locken mir zurück,
Dann frugst du manche Sachen
Und batest mich, dein letztes Glück
Im Alter noch zu machen.
»Sie sagten mir, du wärest tot!«
Dumpf riefst du′s aus und weintest;
Da ward mir klar in deiner Not,
Daß du den Vater meintest.

Von seinem Leben sprachst du nun,
Als wär′s mein eignes Leben;
Ich sah ihn in der Wiege ruhn,
Mit Wonne dich darneben;
Ich gab durch manches schöne Jahr
Gerührt ihm das Geleite;
Ich sah ihn endlich am Altar,
An meiner Mutter Seite.

Manch schlichtes Glück erfreute ihn,
Ich wurde ihm geboren;
Mein Bruder dann; jetzt aber schien
Der Faden dir verloren.
Du stocktest plötzlich, brachest ab
Und frugst, was nun gekommen,
Ich dachte an sein frühes Grab,
Doch schwieg ich, tief beklommen.

Du schluchztest, aufgetaut und weich,
Als hättst du nichts vergessen,
Und doch begannest du zugleich,
Von einer Frucht zu essen.
Den Stuhl zum Ofen schobst du dann,
Dich wieder einsam wähnend,
Und fingest laut zu beten an,
Dein Haupt vorüber lehnend.

Ich aber sah von fern die Zeit
Auch mein schon dunkel harren,
Wo mir die Welt nichts weiter beut,
Als Gräber aufzuscharren,
Und, weil dem schlotternden Gebein
Sich noch versagt das Bette,
Ich, selbst verglüht, in Gottes Sein
Mich still hinüber rette.

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Gedicht: Großmutter von Friedrich Hebbel

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Großmutter“ von Friedrich Hebbel ist eine ergreifende Darstellung des Verfalls des Alters und der Erinnerung, kombiniert mit einer Reflexion über das Leben, die Liebe und den Tod. Das Gedicht ist in fünf Strophen unterteilt, die jeweils eine Szene oder einen Moment im Erleben des lyrischen Ichs mit seiner Großmutter beschreiben. Es beginnt mit einer Ehrfurcht und dem Wunsch nach Segnung, zeigt aber bald den zunehmenden Verlust der Großmutter an Realität und Gedächtnis.

Die ersten beiden Strophen etablieren das zentrale Thema des Gedächtnisverlustes. Die Großmutter ist körperlich schwach und ihre Sinne schwinden. Sie lebt in einer Welt, die für das lyrische Ich kaum noch zugänglich ist. Sie verwechselt den Enkel mit dem verstorbenen Vater und erlebt Erinnerungen, die sich für sie wie gegenwärtig anfühlen. Dieser Verlust ist nicht nur für die Großmutter tragisch, sondern auch für den Enkel, der Zeuge dieses Zerfalls wird und dabei mit seinem eigenen Verständnis von Leben und Verlust konfrontiert wird. Die Zeile „Da ward mir klar in deiner Not, / Daß du den Vater meintest“ ist ein Schlüsselmoment, der die Verwirrung und das tiefe Mitgefühl des Enkels verdeutlicht.

Die mittleren Strophen zeichnen ein Bild der fragmentierten Erinnerungen und der emotionalen Reaktionen der Großmutter. Sie erinnert sich an die Vergangenheit ihres Sohnes, als wäre es ihr eigenes Leben, und der Enkel wird unfreiwillig in diese Erinnerungen hineingezogen. Sie erlebt Momente der Freude und Trauer, die durch den Kontrast zwischen den glücklichen Erinnerungen und der Erkenntnis ihres eigenen nahenden Todes verstärkt werden. Der Bruch in ihren Erzählungen, gefolgt von emotionalem Ausbruch und dem Essen einer Frucht, zeigt die Unvorhersehbarkeit und die zerbrochene Struktur ihres Denkens.

Die letzte Strophe lenkt den Blick des Enkels auf seine eigene Zukunft und die eigene Vergänglichkeit. Er erkennt die Ähnlichkeit des Schicksals seiner Großmutter mit seinem eigenen und reflektiert über das eigene Alter und den Tod. Die Zeilen „Ich aber sah von fern die Zeit / Auch mein schon dunkel harren“ zeigen seine wachsende Erkenntnis, dass auch sein eigenes Leben von Vergänglichkeit geprägt ist. Er nimmt die Vergänglichkeit des Lebens an, indem er sich wünscht, sich in Gottes Sein zu retten, was eine Sehnsucht nach Frieden und Erlösung ausdrückt. Das Gedicht endet mit einer tiefgründigen Kontemplation über das Leben, den Verlust und die Akzeptanz des Todes.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.