Winternacht
Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt,
Still und blendend lag der weiße Schnee
Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt,
Keine Welle schlug im starren See.
Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf,
Bis sein Wipfel in dem Eis gefror;
An den Ästen klomm die Nix‘ herauf,
Schaute durch das grüne Eis empor.
Auf dem dünnen Glase stand ich da,
Das die schwarze Tiefe von mir schied:
Dicht ich unter meinen Füßen sah
Ihre weiße Schönheit Glied um Glied.
Mit ersticktem Jammer tastet‘ sie
An der harten Decke her und hin,
Ich vergess‘ das dunkle Antlitz nie,
Immer, immer liegt es mir im Sinn!
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Winternacht“ von Gottfried Keller schildert in eindringlichen Bildern eine unheimliche Begegnung zwischen dem lyrischen Ich und einer unter dem Eis eingeschlossenen Nixe. In ruhiger, beinahe erstarrter Natur entfaltet sich eine Szene voller Spannung, Stille und unterschwelliger Tragik. Die starre Winternacht wird dabei nicht nur zur Kulisse, sondern zum Ausdruck eines seelischen Erlebnisses, das tief nachhallt.
Die erste Strophe zeichnet ein Bild völliger Bewegungslosigkeit: Schnee, Sternenzelt, der See – alles ist erstarrt. Diese äußere Ruhe schafft eine spannungsgeladene Atmosphäre, die zugleich schön und beunruhigend wirkt. Die Natur scheint eingefroren, als sei sie in einem Moment absoluter Zeitlosigkeit gefangen.
Mit der zweiten Strophe beginnt die Bewegung – allerdings nicht an der Oberfläche, sondern aus der Tiefe. Der „Seebaum“, eine märchenhafte Vorstellung, wächst durch das Eis, an seinen Ästen steigt eine Nixe empor. Dieser Bildwechsel führt von der kalten Starre in eine geheimnisvolle, fast mythische Unterwelt. Die Nixe als Wasserwesen steht für das Verborgene, das Lockende, aber auch das Leidende. Ihr Aufstieg bleibt erfolglos, sie bleibt unter dem Eis gefangen.
Die dritte und vierte Strophe intensivieren diese Tragik: Das lyrische Ich steht auf dem Eis, sieht die Nixe direkt unter sich – ihre Schönheit ist sichtbar, aber unerreichbar. Ihr „erstickter Jammer“ macht die Szene zu einem Bild tiefster Hilflosigkeit und Trauer. Das harte Eis trennt nicht nur zwei Welten, sondern verhindert auch Rettung oder Berührung. Die emotionale Wirkung der Szene kulminiert in der letzten Zeile: Das dunkle Antlitz der Nixe hat sich unauslöschlich in das Gedächtnis des lyrischen Ichs eingebrannt.
„Winternacht“ verknüpft Naturbeschreibung mit einer geheimnisvollen, fast traumhaften Begegnung und stellt zugleich eine tief existenzielle Erfahrung dar. Es geht um Nähe und Trennung, um Schönheit und unerreichbares Leid – ein stilles, aber eindrucksvolles Gedicht über das Verharren zwischen Leben und Tod, Wirklichkeit und Traum.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.