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Gimpel

Von

In des Waldes Kathedrale
Rauscht das Laub als Sonntagsglocken,
Glühn als goldne Ampelstrahle
Hell der Sonne Lichterflocken.

Und die gläub’gen Vöglein wallen,
Sonntaglich an Leib und Feder,
Zu des Buchbaums grünen Hallen,
Wo ein Ast ragt als Katheder.

Dompfaff Gimpel predigt dorten,
Der die Frau’n und Herrn begeistert,
Weil er klug mit Salbungsworten
Jene rührt und diese meistert.

Läßt nicht gut von schwarzem Sammet
Ihm das Soli-deo-käppchen?
Roth die Domherrnweste flammet,
Zierlich fällt das schwarze Schleppchen.

Seine engbestrumpften Beine
Weiß er anstandsvoll zu stellen,
Dem Asketeneifer feine
Weltmanieren zu gesellen.

»O ihr Sünder, unbußfertig,
Wandelnd auf des Irrfals Wegen,
Seid des Götterzorns gewärtig,
Der euch allwärts droht entgegen.

Meidet die Gewohnheitsünden
Kirschen, Hanfkorn, Weizenähren,
Laßt euch nicht von Lust entzünden
Zu Wachholders schnöden Beeren!

Denn Leimruthen, Netze, Kloben
Drohn euch dort als Fegefeuer,
Drin in Qual ihr werdet toben,
Und aus dem Befreiung theuer.

Wehe! Den verstockten Bösen
Gähnt die Hölle Vogelbauer,
Daraus nimmer ein Erlösen,
Drin der Pips und ew’ge Trauer!

Nun geht heim und unbethöret
Weiter am Wachholderhage;
Denkt der Predigt, bis ihr höret
Deren Ende heut acht Tage.«

Doch am nächsten Festesmorgen
Unbesetzt ragt der Katheder;
Wo der Pred’ger sich verborgen,
Sucht mit Angst und Neugier Jeder.

Am Wachholder düstre Reste!
An den Kloben sein Gefieder!
Ein Stück Mantel, ein Stück Weste!
Ach, kein Auge sah ihn wieder.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Gimpel von Anastasius Grün

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Gimpel“ von Anastasius Grün ist eine satirische Auseinandersetzung mit der Heuchelei und Doppelmoral in der Kirche, verpackt in einer allegorischen Geschichte über einen Vogelprediger. Der Dichter nutzt die Metapher der Vogelwelt, um menschliche Schwächen und religiöse Praktiken zu kritisieren. Das Gedicht beginnt mit einer idyllischen Naturszene, die die Kulisse für die Predigt des Dompfaff Gimpel bildet, dessen Auftreten und Predigten eine deutliche Parallele zu einem humanen Priester aufweisen. Die Beschreibung des Waldes als „Kathedrale“ und die „Sonntagsglocken“ des Laubes legen einen sakralen Rahmen fest, der jedoch im Laufe des Gedichts untergraben wird.

Gimpels Predigt ist voller Drohungen und Warnungen vor Sünden, wobei er sich vor allem gegen „Gewohnheitsünden“ wie Kirschen und Wachholderbeeren wendet, die für weltliche Genüsse stehen könnten. Die Predigt ist reich an rhetorischen Fragen und ergreifenden Bildern, wie dem „Götterzorn“, der den Sündern droht. Die Sprache ist jedoch ironisch, da die Details der Predigt lächerlich erscheinen und die Obsession mit kleinen, profanen Freuden übertrieben wirkt. Die ausführliche Beschreibung von Gimpels Kleidung unterstreicht die Eitelkeit und das formelle Auftreten, die die innere Leere und Heuchelei des Predigers verschleiern.

Der Clou des Gedichts kommt am Ende, wenn Gimpel, der Prediger der Nüchternheit, selbst Opfer seiner eigenen Versuchungen wird. Am nächsten Tag wird er tot am Wacholderbusch gefunden, wo er offensichtlich seinen eigenen Verführungen erlegen ist. Diese Wendung untergräbt die gesamte vorherige Predigt und offenbart die Heuchelei Gimpels, der andere vor Versuchungen warnt, denen er selbst nicht widerstehen kann. Sein Tod, angedeutet durch die „Leimruthen, Netze, Kloben“, unterstreicht die Falle, in die er sich selbst gebracht hat.

Die zentrale Botschaft des Gedichts ist ein scharfer Kommentar zur Doppelmoral und zur Scheinheiligkeit in religiösen Kreisen. Grün kritisiert die Kluft zwischen Predigt und Praxis, zwischen dem, was gepredigt wird, und dem, was tatsächlich gelebt wird. Der Vogelbauer als Hölle und der ewige „Pips“ und die Trauer sind ein humorvoller, aber eindringlicher Kommentar zum Schicksal derer, die ihre eigenen moralischen Standards verletzen. Das Gedicht ist ein satirisches Meisterwerk, das die Schwächen der menschlichen Natur und der religiösen Institutionen auf unterhaltsame und zum Nachdenken anregende Weise aufzeigt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.