Kaspar Hauser Lied
Er wahrlich liebte die Sonne, die purpurn den Hügel hinabstieg,
Die Wege des Walds, den singenden Schwarzvogel
Und die Freude des Grüns.
Ernsthaft war sein Wohnen im Schatten des Baums
Und rein sein Antlitz.
Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen:
O Mensch!
Stille fand sein Schritt die Stadt am Abend;
Die dunkle Klage seines Munds:
Ich will ein Reiter werden.
Ihm aber folgte Busch und Tier,
Haus und Dämmergarten weißer Menschen
Und sein Mörder suchte nach ihm.
Frühling und Sommer und schön der Herbst
Des Gerechten, sein leiser Schritt
An den dunklen Zimmern Träumender hin.
Nachts blieb er mit seinem Stern allein;
Sah, daß Schnee fiel in kahles Gezweig
Und im dämmernden Hausflur den Schatten des Mörders.
Silbern sank des Ungebornen Haupt hin.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Kaspar Hauser Lied“ von Georg Trakl beschreibt in einer symbolischen und melancholischen Weise das tragische Leben von Kaspar Hauser, einem jungen Mann, der als Findelkind unter mysteriösen Umständen aufwuchs und ein Leben in Isolation und Ungewissheit führte. Das Gedicht beginnt mit einer Darstellung der Natur und der einfachen Freuden, die Kaspar Hauser als „wahrlich liebend“ empfand. Die „purpurnen Sonne“, die „den Hügel hinabstieg“, und der „singende Schwarzvogel“ stehen für das Unschuldige und das Reine, was Kaspar in seiner kindlichen Welt erlebt – ein Leben im Einklang mit der natürlichen Schönheit, das jedoch durch die dunklen Geheimnisse seiner Herkunft und seines Schicksals belastet ist.
Im zweiten Teil des Gedichts tritt eine stärkere Spiritualität hervor. Die „sanfte Flamme“, die Gott zu seinem Herzen spricht, könnte als symbolische Darstellung von Gottes Gnade oder einem höheren Ruf verstanden werden, der Kaspar in seiner Einsamkeit leitet. Kaspar Hauser lebt in einem Zustand der Reinheit und der Stille, jedoch auch der Entfremdung. Der Wunsch „Ich will ein Reiter werden“ drückt den Drang nach Freiheit und ein Leben jenseits der Fesseln seiner Isolation aus, doch die dunklen Schatten seiner Vergangenheit verfolgen ihn unaufhörlich. Der „Mörder“, der nach ihm sucht, symbolisiert die Bedrohung und das bevorstehende tragische Ende.
Die folgenden Verse kontrastieren die fröhliche Erinnerung an die Jahreszeiten – „Frühling und Sommer“ und den „schönen Herbst“ – mit der düsteren Realität seines Lebens. Kaspar Hauser geht „mit seinem leisen Schritt“ an den „dunklen Zimmern Träumender“ vorbei, was auf seine Isolation und die Entfremdung von der Gesellschaft hinweist. Trotz seiner Reinheit und seiner Sehnsucht nach Freiheit bleibt er ein Außenseiter, und die Dunkelheit seiner Existenz wird durch die „dämmernden Hausflure“ und den Schatten des Mörders symbolisiert.
Im letzten Abschnitt des Gedichts beschreibt Trakl den Tod von Kaspar Hauser, der als „silbern“ sinkend dargestellt wird. Dies könnte als Bild für die Zartheit seines Lebens und die Unschuld, die er trotz seiner Tragödie bewahrte, interpretiert werden. Der „Schatten des Mörders“ bleibt ein ständiger Begleiter, der auf das düstere Ende hinweist, das Kaspar Hauser letztlich ereilt. Das Bild des „Ungeborenen Hauptes“ verweist möglicherweise auf das Leben, das er nie vollständig erleben konnte, und auf das tragische Potenzial, das nie zur Entfaltung kam. Trakls Gedicht über Kaspar Hauser verbindet die Themen von Isolation, Tragik und dem Streben nach Freiheit in einer dunklen, poetisch aufgeladenen Weise.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.