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Die Alte

Von

Zu meiner Zeit, zu meiner Zeit
Bestand noch Recht und Billigkeit.
Da wurden auch aus Kindern Leute,
Aus tugendhaften Mädchen Bräute;
Doch alles mit Bescheidenheit.
O gute Zeit, o gute Zeit!
Es ward kein Jüngling zum Verräter,
Und unsre Jungfern freiten später,
Sie reizten nicht der Mütter Neid.
O gute, Zeit, o gute Zeit!

Zu meiner Zeit, zu meiner Zeit
Befliß man sich der Heimlichkeit.
Genoß der Jüngling ein Vergnügen,
So war er dankbar und verschwiegen;
Doch jetzt entdeckt er’s ungescheut.
O schlimme Zeit, o schlimme Zeit!
Die Regung mütterlicher Triebe,
Der Vorwitz und der Geist der Liebe
Fährt jetzt oft schon in’s Flügelkleid.
O schlimme Zeit, o schlimme Zeit!

Zu meiner Zeit, zu meiner Zeit
ward Pflicht und Ordnung nicht entweiht.
Der Mann ward, wie es sich geblühret,
Von einer lieben Frau regieret,
Trotz seiner stolzen Männlichkeit.
O gute Zeit, o gute Zeit!
Die Fromme herrschte nur gelinder,
Uns blieb der Hut und ihm die Kinder;
Das war die Mode weit und breit.
O gute Zeit, o gute Zeit!

Zu meiner Zeit, zu meiner Zeit
war noch in Ehen Einigkeit.
Jetzt darf der Mann uns fast gebieten,
Uns widersprechen und uns hüten,
Wo man mit Freunden sich erfreut.
O schlimme Zeit, o schlimme Zeit!
Mit dieser Neuerung im Lande,
Mit diesem Fluch im Ehestande
Hat ein Komet uns längst bedräut.
O schlimme Zeit, o schlimme Zeit!

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Gedicht: Die Alte von Friedrich von Hagedorn

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Alte“ von Friedrich von Hagedorn gibt einer älteren Frau eine Stimme, die wehmütig und kritisch über den Wandel der Zeiten klagt. In einer Mischung aus nostalgischer Verklärung der Vergangenheit und harscher Kritik an den Sitten der Gegenwart entsteht ein satirisches Porträt einer konservativen Haltung, die sich an überkommenen Moralvorstellungen festhält.

Strophenweise beklagt die Sprecherin den Verlust traditioneller Werte. Sie stellt ihre eigene „Zeit“ als moralisch gefestigt und ordentlich dar – dort herrschten „Recht und Billigkeit“, Bescheidenheit und Anstand. Besonders die Rollenbilder von Männern und Frauen werden in der Rückschau verklärt. Mädchen heirateten später, waren tugendhaft und unterlagen weniger dem „Neid der Mütter“.

In der zweiten und vierten Strophe kritisiert sie die Freizügigkeit und Offenheit der Jugend der Gegenwart. Besonders die „Entdeckung“ von Liebesabenteuern und der Verlust von Heimlichkeit stören sie. Die „schlimme Zeit“ sei geprägt von einem „Vorwitz“ der Jugend und einem frühen Erwachen von Liebe und Begierde – auch im Kindesalter. Ebenso beklagt sie, dass Männer nun häufiger widersprechen und die Autorität der Frau in der Ehe infrage stellen.

Hagedorn verbindet hier Moralkritik mit Ironie: Die übertriebene Sehnsucht der Sprecherin nach der „guten alten Zeit“ und ihre extreme Ablehnung der Gegenwart wirken bewusst überzeichnet. Die wiederkehrenden Refrains „O gute Zeit, o gute Zeit!“ und „O schlimme Zeit, o schlimme Zeit!“ geben dem Gedicht eine humorvolle Note und lassen die Sprecherin als Vertreterin eines rückwärtsgewandten, etwas altmodischen Denkens erscheinen. Damit gelingt Hagedorn eine satirische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Wandel und nostalgischer Verklärung.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.