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Dichters Berufung

Von

Als ich jüngst, mich zu erquicken,
Unter dunklen Bäumen saß,
Hört‘ ich ticken, leise ticken,
Zierlich, wie nach Takt und Maas.
Böse wurd‘ ich, zog Gesichter, –
Endlich aber gab ich nach,
Bis ich gar, gleich einem Dichter,
Selber mit im Tiktak sprach.

Wie mir so im Verse-Machen
Silb‘ um Silb‘ ihr Hopsa sprang,
Musst‘ ich plötzlich lachen, lachen
Eine Viertelstunde lang.
Du ein Dichter? Du ein Dichter?
Steht’s mit deinem Kopf so schlecht?
– „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter“
Achselzuckt der Vogel Specht.

Wessen harr‘ ich hier im Busche?
Wem doch laur‘ ich Räuber auf?
Ist’s ein Spruch? Ein Bild? Im Husche
Sitzt mein Reim ihm hintendrauf.
Was nur schlüpft und hüpft, gleich sticht der
Dichter sich’s zum Vers zurecht.
– „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter“
Achselzuckt der Vogel Specht.

Reime, mein‘ ich, sind wie Pfeile?
Wie das zappelt, zittert, springt,
Wenn der Pfeil in edle Theile
Des Lacerten-Leibchens dringt!
Ach, ihr sterbt dran, arme Wichter,
Oder taumelt wie bezecht!
– „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter“
Achselzuckt der Vogel Specht.

Schiefe Sprüchlein voller Eile,
Trunkne Wörtlein, wie sich’s drängt!
Bis ihr Alle, Zeil‘ an Zeile,
An der Tiktak-Kette hängt.
Und es giebt grausam Gelichter,
Das dies – freut? Sind Dichter – schlecht?
– „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter“
Achselzuckt der Vogel Specht.

Höhnst du, Vogel? Willst du scherzen?
Steht’s mit meinem Kopf schon schlimm,
Schlimmer stünd’s mit meinem Herzen?
Fürchte, fürchte meinen Grimm! –
Doch der Dichter – Reime flicht er
Selbst im Grimm noch schlecht und recht.
– „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter“
Achselzuckt der Vogel Specht.

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Gedicht: Dichters Berufung von Friedrich Nietzsche

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Dichters Berufung“ von Friedrich Nietzsche ist eine ironische, selbstreflexive Auseinandersetzung mit dem eigenen dichterischen Schaffen und zugleich eine pointierte Kritik an der Rolle des Dichters. In heiter-gespieltem Tonfall stellt Nietzsche das Dichten als beinahe lächerliche, zwanghafte Tätigkeit dar – getrieben von Rhythmus, Klang und der Jagd nach sprachlichen Bildern. Zugleich schwingt in den humorvollen Versen eine tieferliegende Skepsis mit: gegenüber dem Selbstverständnis des Dichters und gegenüber der Bedeutung von Poesie im Allgemeinen.

Bereits die erste Strophe inszeniert den Ursprung der Dichtung in einer beiläufigen, fast lästigen Beobachtung: Das leise Ticken – möglicherweise ein Specht, vielleicht auch nur der Rhythmus der Natur – wird vom lyrischen Ich erst als störend empfunden, bis es sich dem Takt ergibt und schließlich selbst im „Tiktak“ mitredet. Der Übergang vom Beobachter zum Mitspieler zeigt auf ironische Weise, wie schnell der Dichter sich in den Sog der Form und des Klangs verliert.

Der Vogel Specht, der immer wieder mit der lakonischen Zeile „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter“ antwortet, fungiert als eine Art spöttischer Spiegel. Er verkörpert die Stimme der nüchternen Außenwelt, die das dichterische Treiben kommentiert, aber nicht ernst nimmt. Jede noch so selbstbewusste oder verzweifelte Wendung des Sprechers wird mit dem immer gleichen, achselzuckenden Satz quittiert – eine wiederkehrende ironische Brechung des dichterischen Pathos.

In den mittleren Strophen steigert sich das Bild des Dichters zum Jäger: Reime sind „Pfeile“, Verse „sticht“ er aus flüchtigen Eindrücken. Dabei wird das Dichten beinahe zur Gewalt an der Sprache und der Welt – das Bild des „Lacerten-Leibchens“, das vom Reim durchbohrt wird, ist zugleich grotesk und komisch. Der Reimzwang, der alles einfängt, was sich bewegt, wird zur Metapher für die obsessive Fixierung auf sprachliche Form – und auch für die Übergriffigkeit des dichterischen Zugriffs.

Schließlich stellt sich das lyrische Ich selbst in Frage: Ist das wirklich Dichtung? Oder nur „schiefe Sprüchlein“ und „trunkne Wörtlein“? Die Verse hängen „an der Tiktak-Kette“ – einem Bild, das sowohl auf mechanischen Reimzwang als auch auf kreative Monotonie verweist. Doch selbst im „Grimm“, im Zorn über diese Erkenntnis, dichtet der Sprecher weiter – unfähig, dem dichterischen Trieb zu entkommen.

Nietzsches Gedicht ist eine augenzwinkernde, zugleich tiefsinnige Parodie auf das Dichten selbst. Es spielt mit Form und Reim, während es diese gleichzeitig hinterfragt. Der immer gleiche Spechtenspruch wird zur ironischen Bestätigung einer Berufung, die sich selbst nicht mehr ganz ernst nimmt. In dieser Verbindung aus Witz, Selbstkritik und Sprachspiel offenbart sich Nietzsches eigenwilliger Zugang zur Poesie: als Spiel mit Masken, als Form der Wahrheitssuche – aber nie ohne Distanz zu sich selbst.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.