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Der Mensch I

Von

Kaum sproßten aus den Wassern, o Erde, dir
Der jungen Berge Gipfel und dufteten
Lustatmend, immergrüner Haine
Voll, in des Ozeans grauer Wildnis

Die ersten holden Inseln; und freudig sah
Des Sonnengottes Auge die Neulinge,
Die Pflanzen, seiner ewgen Jugend
Lächelnde Kinder, aus dir geboren.

Da auf der Inseln schönster, wo immerhin
Den Hain in zarter Ruhe die Luft umfloß,
Lag unter Trauben einst, nach lauer
Nacht, in der dämmernden Morgenstunde

Geboren, Mutter Erde! dein schönstes Kind;-
Und auf zum Vater Helios sieht bekannt
Der Knab, und wacht und wählt, die süßen
Beere versuchend, die heilge Rebe

Zur Amme sich; und bald ist er groß; ihn scheun
Die Tiere, denn ein anderer ist, wie sie,
Der Mensch; nicht dir und nicht dem Vater
Gleicht er, denn kühn ist in ihm und einzig

Des Vaters hohe Seele mit deiner Lust,
O Erd ! und deiner Trauer von je vereint;
Der Göttermutter, der Natur, der
Allesumfassenden möchte er gleichen!

Ach ! darum treibt ihn, Erde! vom Herzen dir
Sein Übermut, und deine Geschenke sind
Umsonst und deine zarten Bande;
Sucht er ein Besseres doch, der Wilde!

Von seines Ufers duftender Wiese muß
Ins blütenlose Wasser hinaus der Mensch,
Und glänzt auch, wie die Sternenacht, von
Goldenen Früchten sein Hain, doch gräbt er

Sich Höhlen in den Bergen und späht im Schacht,
Von seines Vaters heiterem Lichte fern,
Dem Sonnengott auch ungetreu, der
Knechte nicht liebt und der Sorge spottet.

Denn freier atmen Vögel des Walds, wenn schon
Des Menschen Brust sich herrlicher hebt, und der
Die dunkle Zukunft sieht, er muß auch
Sehen den Tod, und allein ihn fürchten.

Und Waffen wider alle, die atmen trägt
In ewigbangem Stolze der Mensch; im Zwist
Verzehrt er sich und seines Friedens
Blume, die zärtliche, blüht nicht lange.

Ist er von allen Lebensgenossen nicht
Der seligste? Doch tiefer und reißender
Ergreift das Schicksal, allausgleichend,
Auch die entzündbare Brunst dem Starken.

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Gedicht: Der Mensch I von Friedrich Hölderlin

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Mensch I“ von Friedrich Hölderlin thematisiert in einem weiten, fast kosmischen Bogen die Herkunft, das Wesen und das tragische Los des Menschen. Es beginnt mit einer Schöpfungsvision, in der die Erde aus dem Ozean aufsteigt, jung und fruchtbar, von göttlicher Schönheit erfüllt. In dieser paradiesischen Frühzeit entsteht auch der Mensch – ein Geschöpf, das sowohl der Erde als auch dem Sonnengott Helios entstammt. Doch gerade diese doppelte Herkunft macht ihn zu einem Wesen der Spannung und des Widerspruchs.

Hölderlin beschreibt den Menschen als einzigartig: Er ist nicht bloß ein Tier, sondern besitzt eine höhere Seele, die er vom Vater, dem Sonnengott, empfangen hat. Zugleich trägt er die Lust, aber auch die Trauer der Mutter Erde in sich. Diese Mischung aus göttlichem Streben und irdischer Gebundenheit macht den Menschen zu einem Wesen, das nie ganz ankommen kann. Statt in Harmonie mit der Natur zu leben, treibt ihn sein Übermut fort von ihr – er verschmäht die „zarten Bande“ der Erde und sucht ein „Besseres“.

So verlässt er das Paradies: Trotz der Fülle der Natur zieht es ihn in die Tiefe der Berge, in die Dunkelheit der Schächte, weg vom Licht des Sonnengottes. Der Mensch wird zum Suchenden, aber auch zum Getriebenen. Er verliert die ursprüngliche Einheit mit der Welt, entfremdet sich von den Göttern und der Natur. Der Preis dieses Strebens ist hoch: Freiheit bringt Einsamkeit, Erkenntnis bringt Todesbewusstsein. Der Mensch ist sich seiner Sterblichkeit bewusst – und das macht ihn zugleich erhaben und tragisch.

Hölderlin zeigt den Menschen als zwiespältiges Wesen: Er trägt den Keim göttlicher Größe in sich, doch gerade deshalb wird er tiefer vom Schicksal getroffen. Die letzten Verse führen diese tragische Dimension zu einem Höhepunkt: Der Mensch ist zwar der „seligste“ unter den Lebewesen, doch gerade seine Stärke, sein geistiges Feuer macht ihn verletzlich. Hölderlin zeichnet damit ein zutiefst ambivalentes Bild: Der Mensch ist ein Wesen zwischen Licht und Dunkel, zwischen göttlicher Sehnsucht und irdischer Verlorenheit.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

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