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Nachtgefühl

Von

Wenn ich mich abends entkleide,
Gemachsam, Stück für Stück,
So tragen die müden Gedanken
Mich vorwärts oder zurück.

Ich denke der alten Tage,
Da zog die Mutter mich aus;
Sie legte mich still in die Wiege,
Die Winde brausten ums Haus.

Ich denke der letzten Stunde,
Da werden’s die Nachbarn tun;
Sie senken mich still in die Erde,
Dann werd ich lange ruhn.

Schließt nun der Schlaf mein Auge,
Wie träum ich so oftmals das:
Es wäre eins von beidem,
Nur wüßt‘ ich selber nicht, was.

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Gedicht: Nachtgefühl von Friedrich Hebbel

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Nachtgefühl“ von Friedrich Hebbel thematisiert das Nachdenken über Leben und Tod im stillen Moment des Zubettgehens. In der abendlichen Ruhe, wenn das lyrische Ich sich entkleidet, gleiten die Gedanken in die Vergangenheit und in die Zukunft, hin zu Kindheit und Tod. Diese Bewegung „vorwärts oder zurück“ verdeutlicht die Verbindung von Anfang und Ende, die sich im Zustand der Müdigkeit und Stille besonders eindrücklich zeigt.

In der zweiten Strophe erinnert sich das lyrische Ich an die frühe Kindheit, als die Mutter es fürsorglich auszog und in die Wiege legte. Diese Szene wird mit einer leichten Melancholie geschildert, untermalt vom Brausen des Windes – ein Naturbild, das Geborgenheit und äußere Bedrohung zugleich vermittelt. Die dritte Strophe spiegelt diese Szene auf der anderen Seite des Lebens wider: Beim Tod sind es die Nachbarn, die das „Entkleiden“ übernehmen und das Ich in die Erde legen. Hier entsteht eine Parallele zwischen Wiege und Grab, zwischen dem Einschlafen als Kind und dem endgültigen Ruhen nach dem Tod.

Besonders eindrucksvoll ist die letzte Strophe, in der der Schlaf als Zustand zwischen Leben und Tod erscheint. Im Traum verschwimmen die Grenzen, das lyrische Ich fühlt sich „zwischen den Welten“, ohne zu wissen, ob es sich um die Rückkehr zur Kindheit oder um das endgültige Ende handelt. Hebbel zeigt so, wie sehr Schlaf, Geburt und Tod miteinander verwoben sind und wie sich im Nachtgefühl die großen Fragen nach Anfang und Ende verdichten.

Das Gedicht besticht durch seine schlichte, klare Sprache und die sanfte, nachdenkliche Stimmung. Hebbel gelingt es, das alltägliche Ritual des Einschlafens zu einem meditativen Moment zu machen, der über das Leben hinausweist und eine tiefe Nachdenklichkeit über den Kreislauf des Daseins vermittelt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.