Kennst Du das Land
Kennst Du das Land,
Wo die Lianen blüh’n
Und himmelhoch
Sich rankt des Urwalds Grün?
Wo Niagara aus den Felsen bricht,
Und Sonnenglut den freien Scheitel sticht? –
Kennst Du das Land,
Wohin Märtyrer zieh’n,
Und wo sie still
Wie Alpenröslein glüh’n?
Kennst Du das Land, kennst Du es nicht?
Die zweite Heimat ist’s, so mancher spricht!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Kennst Du das Land“ von Friederike Kempner greift bewusst die berühmte Anfangszeile aus Goethes gleichnamigem Gedicht auf, verwandelt sie aber in eine eigene, politisch und emotional aufgeladene Vision. Während Goethe das ideale Italien beschwört, entwirft Kempner ein Bild eines fernen, wilden, zugleich verheißungsvollen Landes, das sowohl Naturwunder als auch menschliches Opfer in sich vereint – eine zweite Heimat, wie sie viele Emigranten oder Glaubensflüchtlinge empfinden könnten.
In der ersten Strophe beschreibt Kempner ein exotisches, beinahe überwältigendes Naturbild: Lianen, Urwald, der Niagara – alles steht für ungebändigte, mächtige Natur. Die „Sonnenglut“, die den „freien Scheitel sticht“, verleiht dieser Landschaft eine fast heldische Härte. Es ist keine sanfte Idylle, sondern eine rohe, starke Welt, die von Freiheit und Gefahr zugleich durchdrungen ist.
Die zweite Strophe wendet sich vom Äußeren zum Inneren: Nun ist die Rede von Märtyrern, die in dieses Land ziehen und dort „still / wie Alpenröslein glüh’n“. Diese Metapher verbindet das Leiden mit einer stillen Schönheit und verweist auf innere Stärke, Opferbereitschaft und Spiritualität. Das Alpenröslein, klein, aber widerstandsfähig, symbolisiert hier eine stille, aber kraftvolle Existenz.
Die wiederholte Frage „Kennst Du das Land?“ erhält in der letzten Zeile ihre überraschende Auflösung: „Die zweite Heimat ist’s, so mancher spricht!“ – Das Gedicht spielt hier auf die Erfahrung vieler Menschen an, die ihr Herkunftsland verlassen mussten oder freiwillig neue Orte fanden, in denen sie Heimat suchten oder fanden. Es kann als Andeutung auf Amerika gelesen werden, als Land der Naturwunder, des Exils, der Freiheit – aber auch der Härte und des persönlichen Opfers.
Kempner verknüpft in „Kennst Du das Land“ Natur, Exil, geistige Suche und Leiden zu einer verdichteten Vision eines Landes jenseits der Heimat, das zugleich fremd und vertraut ist. Es wird nicht idealisiert, sondern in seiner ganzen Ambivalenz gezeigt – ein Ort des Staunens, des Opfers, der Möglichkeit.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.