Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, ,

Die Schriftstellerhymne

Von

Der Schriftsteller geht dem Broterwerb nach,
Mit ausgefransten Hosen.
Er schläft sieben Treppen hoch unterm Dach,
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner,
Schöner, grüner Lorbeerzweig, der dich neckt
Und die Stirn bedeckt, wenn der Lump verreckt,
Mit ausgefransten Hosen.

Ist irgendwer gegen sein Schicksal erbost,
Mit ausgefransten Hosen,
Der Schriftsteller bringt auch dem Ärmsten noch Trost,
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner,
Schöner, grüner Lorbeerzweig, der dich neckt
Und die Stirn bedeckt, wenn der Lump verreckt,
Mit ausgefransten Hosen.

Der König spricht nach, was ein Schriftsteller schrieb,
Mit ausgefransten Hosen.
Dem Volk ist er fast wie sein König so lieb,
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner,
Schöner, grüner Lorbeerzweig, der dich neckt
Und die Stirn bedeckt, wenn der Lump verreckt,
Mit ausgefransten Hosen.

Der Schriftsteller ragt zu den Sternen empor,
Mit ausgefransten Hosen.
Er raunt seiner Zeit ihre Wonnen ins Ohr,
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner,
Schöner, grüner Lorbeerzweig, der dich neckt
Und die Stirn bedeckt, wenn der Lump verreckt,
Mit ausgefransten Hosen.

Der Schriftsteller schafft am Webstuhl der Zeit,
Mit ausgefransten Hosen.
So wirkt er der Gottheit lebendiges Kleid,
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner,
Schöner, grüner Lorbeerzweig, der dich neckt,
Und die Stirn bedeckt, wenn der Lump verreckt,
Mit ausgefransten Hosen.

Und trägt er die Schriftstellerei zu Grab,
Mit ausgefransten Hosen,
Gleich lösen ihn hundert Schriftsteller ab,
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner,
Schöner, grüner Lorbeerzweig, der dich neckt,
Und die Stirn bedeckt, wenn der Lump verreckt,
Mit ausgefransten Hosen.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Schriftstellerhymne von Frank Wedekind

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Schriftstellerhymne“ von Frank Wedekind ist eine satirische, aber zugleich würdigende Darstellung des Schicksals des Schriftstellers. Im Zentrum steht der Kontrast zwischen der gesellschaftlichen Bedeutung literarischer Arbeit und den prekären Lebensumständen derer, die sie leisten. Durch die ständige Wiederholung des Refrains „Mit ausgefransten Hosen“ wird die materielle Armut des Schriftstellers als Leitmotiv betont und ironisch überhöht.

Trotz seiner Armut erfüllt der Schriftsteller in jeder Strophe eine bedeutende Rolle: Er spendet Trost, beeinflusst Könige, bewegt das Volk, spricht zur Zeit und schafft – metaphorisch – am „Webstuhl der Zeit“ das „lebendige Kleid“ der Gottheit. Diese poetischen Bilder heben seine kulturelle und geistige Größe hervor, stehen aber in krassem Widerspruch zu seiner sozialen Realität. Diese Spannung zwischen innerem Wert und äußerem Elend wird nicht aufgelöst, sondern durch die Refrainstruktur sogar verstärkt.

Der wiederkehrende „schöne, grüne Lorbeerzweig“ verweist auf die klassische Symbolik des Ruhms und der dichterischen Unsterblichkeit. Doch bei Wedekind „neckt“ dieser Lorbeerzweig den Dichter – eine subtile Ironisierung der Vorstellung vom nachträglichen Ruhm, der nichts an der Lebenslage des Autors ändert. Der Lorbeer bedeckt die Stirn des „Lumps“, wenn er stirbt – was die Ehrung posthum erscheinen lässt, als sei der Ruhm ein letzter Spott auf ein verkanntes Leben.

Wedekind kritisiert mit bitterem Humor die romantische Verklärung des Dichtertums, indem er das Ideal des künstlerischen Genies dem Bild des verarmten Außenseiters gegenüberstellt. Die Hymne wird so zur Parodie – aber auch zur leisen Anerkennung eines Berufes, der sich selbst aufopfert und dabei eine stille, fast tragische Größe bewahrt. Die letzte Strophe betont die Kontinuität des literarischen Schaffens: Der Einzelne mag sterben, doch das geistige Werk wird von neuen Schriftstellern weitergetragen – alle „mit ausgefransten Hosen“.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.