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Es trat Alltäglichkeit

Von

Es trat Alltäglichkeit
Zur Poesie:
»Gib mir dein buntes Kleid!«
Sprach herrisch sie,
»Gib aus den Locken mir
Den gold′nen Kranz,
Nur die poet′sche Zier
Verleiht dir Glanz.«

Die Gute, mild und zart,
In ihre Hand
Gab mit der holden Art
Kranz und Gewand;
Die Andre hüllt sich d′rein
Mit eck′ger Hast –
Wie Blei zum Edelstein
Es für sie paßt.

Dann sprach noch weiter sie:
»Nimm du den Pflug!
Ich hatte Plag′ und Müh′
Jetzt lang′ genug;
Reich mir die Leier her,
Arbeite du –
Zu singen ist nicht schwer
In guter Ruh!«

Sie rührt die Saiten an
Mit rauher Hand,
Gefild und Waldesplan
Erstarrend stand,
Der Vogel fliegt erschreckt
Vom Ast empor,
Der Hirtenbube deckt
Sein lauschend Ohr.

Doch sieh′, die Himmelsmaid
Voll Majestät,
Mit Blicken strahlend weit,
Jetzt vor ihr steht,
Sie spricht: »Alltäglichkeit,
Erkenne dich!
Dich macht nicht Kranz noch Kleid
Zu dem, was ich.

Dein Thun veracht′ ich nie,
Es braucht die Welt
Uns beide; bleib′ wo sie
Dich hingestellt!
Du denkst im Müßiggang
Ging′ träg′ ich her –
Mein Weg ist schwer und lang,
Wie keiner mehr.

Ich baue früh und spat
Des Geistes Feld,
Der Zukunft gold′ne Saat
Mein Fleiß bestellt.
Und, wenn ich träumend geh′,
Ein Schattenbild,
Für tausendfaches Weh
Mir Trost entquillt.

Und meiner Seele Leid
Das ahnst du nie,
Weil du Alltäglichkeit,
Ich Poesie!«
Dann hob ihr Flügelpaar
Sie leise auf,
Wo ihre Heimath war,
Schwebt sie hinauf.

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Gedicht: Es trat Alltäglichkeit von Luise Büchner

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Es trat Alltäglichkeit“ von Luise Büchner ist eine allegorische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Poesie und Alltäglichkeit. Es inszeniert einen Dialog zwischen diesen beiden Personifikationen, in dem die Alltäglichkeit versucht, sich die äußeren Attribute der Poesie anzueignen, um deren vermeintlichen Glanz für sich zu nutzen. Dies zeigt sich in den ersten beiden Strophen, in denen die Alltäglichkeit die „bunten Kleider“ und den „gold’nen Kranz“ der Poesie begehrt. Büchners Sprache ist klar und präzise, die Metaphern sind zugänglich, was die Auseinandersetzung für den Leser verständlich macht.

Die darauffolgenden Strophen veranschaulichen das Scheitern der Alltäglichkeit. Sie versucht, die Aufgaben der Poesie zu übernehmen – das Dichten, das Schaffen von Kunst. Doch ihre „rauhe Hand“ ist unfähig, die Saiten der Leier richtig zu spielen. Die Natur, Symbol der Inspiration und des Ausdrucks, reagiert verstört auf ihre Bemühungen. Vögel fliehen, und die Menschen ziehen sich zurück. Diese Szene unterstreicht die These, dass die äußeren Merkmale der Poesie allein nicht ausreichen, um wahre Kunst zu schaffen. Es fehlt die innere Welt, das Gefühl und die Fähigkeit, Emotionen und Ideen in Worte zu fassen.

Der Höhepunkt des Gedichts ist das Eingreifen der Poesie, die ihre wahren Eigenschaften entfaltet. In einer majestätischen Erscheinung enthüllt sie die Bedeutung ihrer Arbeit und die Notwendigkeit der Trennung von ihr und der Alltäglichkeit. Sie betont die unterschiedlichen Aufgaben, die beide im Leben und in der Welt haben: Die Alltäglichkeit soll in ihrem Bereich wirken, während die Poesie die „gold’ne Saat“ der Zukunft bestellt, Trost spendet und die Leiden der Seele verarbeitet.

Die letzten beiden Strophen sind besonders aufschlussreich. Sie verdeutlichen die Tiefe und den Wert der Poesie, der sich der Alltäglichkeit verschließt. Die Poesie erkennt die Notwendigkeit beider, hebt sich aber schließlich von der Alltäglichkeit ab, indem sie ihre wahre Natur und ihren Weg zur Erfüllung der eigenen Bestimmung aufzeigt. Das Gedicht feiert damit die Unverwechselbarkeit der Poesie, ihren Anspruch auf eine höhere, transzendente Ebene und ihre Bedeutung für das menschliche Dasein. Es ist eine Mahnung an die Kunst, ihr Wesen zu bewahren und ihren eigenen Weg zu gehen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.