Wolkenüberflaggt
Blei-weiß die Fläche, wolkenüberflaggt,
Darein zwei Segel schwarze Furchen graben.
Zwei Uferbäume ragen hochgezackt,
Die frühes Traumgrün auf den Zweigen haben.
Zwei Hunde keuchen übers Ufergras
Und wollen eine heiße Stunde jagen.
Zwei Schüler kommen, schlank und bücher-blass,
Die scheue Liebe wie zwei Leuchter tragen.
Ein junger Dichter wacht auf einer Bank
Und spricht, die Hände um sein Knie gefaltet:
„Wie sind die Dinge heute sehnsuchts-krank!“
Und als er aufblickt, hat sich neu gestaltet
Die Welt und ist erschütternd tränen-blank, –
„Was“, ruft er, „hat mein Herz denn so zerspaltet!“
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Wolkenüberflaggt“ von Ernst Wilhelm Lotz entfaltet in klaren, bildstarken Szenen eine poetische Momentaufnahme voller leiser Spannung, innerer Unruhe und existenzieller Sehnsucht. In typischer expressionistischer Manier wird die äußere Landschaft zum Spiegel eines seelischen Zustands, der zwischen Aufbruch und Melancholie schwankt.
Die erste Strophe zeichnet ein Bild von stiller Bewegung: eine bleich-weiße Wasserfläche, die von dunklen Segeln durchfurcht wird. Die Metapher „wolkenüberflaggt“ verleiht dem Himmel eine fast martialische Note und lässt ihn wie ein großes, undurchdringliches Tuch erscheinen. Zwei Bäume, die „hochgezackt“ ragen und „frühes Traumgrün“ tragen, betonen das Motiv des Neubeginns und der zarten Erwartung, zugleich wirken sie fremd und wie aus einer anderen Welt.
In der zweiten Strophe setzt Lotz das Motiv der Paarung und Gegensätze fort: Die Hunde stehen für Trieb, Hitze und Instinkt, während die Schüler mit ihrer Blässe und Zurückhaltung ein Gegenbild verkörpern – sie tragen die „scheue Liebe wie zwei Leuchter“, was eine fragile, fast sakrale Empfindung andeutet. Auch hier liegt eine Spannung zwischen Körperlichkeit und Zurückhaltung, zwischen unmittelbarem Leben und geistiger Abstraktion.
Der junge Dichter in der dritten Strophe fungiert als lyrisches Zentrum des Gedichts. Er sitzt auf einer Bank, eine Haltung des Innehaltens, des Betrachtens – die Hände um das Knie gefaltet, in sich versunken. Sein Ausruf „Wie sind die Dinge heute sehnsuchts-krank!“ ist ein Ausdruck tiefer innerer Ergriffenheit, fast als spiegele sich in der Welt um ihn herum ein existenzielles Leiden an der Gegenwart. Die plötzlich sich wandelnde Wahrnehmung der Welt – „tränen-blank“ – verweist auf ein stark emotionales, beinahe visionäres Erleben.
Mit dem letzten Ausruf „Was hat mein Herz denn so zerspaltet!“ steigert sich das Empfinden des lyrischen Ichs ins Tragische. Die äußere Szene löst eine innere Erschütterung aus, die Welt erscheint neu, entblößt und schmerzlich schön. Damit wird das Gedicht zu einer Reflexion über Sensibilität, Einsamkeit und das tiefe Erleben von Gegenwart als einem Moment voller Brüchigkeit und Schönheit – ganz im Geiste des frühen Expressionismus.
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Lizenz und Verwendung
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