Ein Liebeslied I
Komm zu mir in der Nacht – wir schlafen engverschlungen.
Müde bin ich sehr, vom Wachen einsam.
Ein fremder Vogel hat in dunkler Frühe schon gesungen,
Als noch mein Traum mit sich und mir gerungen.
Es öffnen Blumen sich vor allen Quellen
Und färben sich mit deiner Augen Immortellen…
Komm zu mir in der Nacht auf Siebensternenschuhen
Und Liebe eingehüllt spät in mein Zelt.
Es steigen Monde aus verstaubten Himmelstruhen.
Wir wollen wie zwei seltene Tiere liebesruhen
Im hohen Rohre hinter dieser Welt.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Ein Liebeslied I“ von Else Lasker-Schüler ist ein zartes, sehnsuchtsvolles Nachtgedicht, das zwischen Traum, Einsamkeit und mystischer Liebe schwebt. Die Sprecherin wendet sich an einen geliebten Menschen mit der Bitte, in der Nacht zu ihr zu kommen – nicht nur körperlich, sondern auch seelisch, als Gegenbild zu ihrer Einsamkeit und Müdigkeit vom wachen, allein erlebten Tag. Der nächtliche Ruf ist zugleich ein Ausdruck tiefer Intimität wie auch einer existenziellen Sehnsucht nach Verbindung.
Die Sprache des Gedichts ist geprägt von stark symbolischen, surreal anmutenden Bildern: Ein „fremder Vogel“ kündigt in der Dämmerung den Tag an, während die Träumende sich noch in einem Zustand zwischen Traum und Erwachen befindet. Blumen öffnen sich vor Quellen und nehmen die Farbe der Augen des Geliebten an – ein poetisches Bild, das Natur, Emotion und Erinnerung kunstvoll miteinander verwebt. Lasker-Schüler nutzt die Symbolik von Natur und Kosmos, um das Innerste des Ichs auszudrücken: eine zarte, verletzliche, doch kraftvoll bildschaffende Liebessehnsucht.
Besonders eindrucksvoll ist die Verschmelzung von Traumwelt und Realität. Mit „Siebensternenschuhen“ und dem Bild von „Monden aus verstaubten Himmelstruhen“ betreten wir eine mythisch aufgeladene Welt, in der die Liebe nicht mehr an Alltag und Zeit gebunden ist. Das nächtliche Zelt, in das der Geliebte eintreten soll, wird zum Schutzraum, zum Ort gelebter Zweisamkeit jenseits der realen Welt.
Im letzten Vers kulminiert das Gedicht in einem außergewöhnlichen Bild: Die Liebenden ruhen „wie zwei seltene Tiere“ im „hohen Rohre hinter dieser Welt“. Dieses Gleichnis betont die Fremdheit, Einzigartigkeit und zugleich Ursprünglichkeit der Liebe. Es handelt sich um ein stilles, verborgenes Glück, das außerhalb der sichtbaren Welt existiert – ein Zustand tiefer, fast magischer Geborgenheit. Else Lasker-Schüler gelingt es, in wenigen Versen eine ganze Gefühlswelt zwischen Melancholie, Begehren und transzendenter Liebe zu entwerfen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.