Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , ,

Die Zeit geht nicht…

Von

Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
Wir ziehen durch sie hin;
Sie ist die Karawanserei,
Wir sind die Pilger drin.

Ein Etwas, form- und farbenlos,
Das nur Gestalt gewinnt,
Wo ihr drin auf und nieder taucht,
Bis wieder ihr zerrinnt.

Es blitzt ein Tropfen Morgentau
Im Strahl des Sonnenlichts;
Ein Tag kann eine Perle sein
Und ein Jahrhundert nichts.

Es ist ein weisses Pergament
Die Zeit, und jeder schreibt
Mit seinem roten Blut darauf,
Bis ihn der Strom vertreibt.

An dich, du wunderbare Welt,
Du Schönheit ohne End′,
Auch ich schreib′ meinen Liebesbrief
Auf dieses Pergament.

Froh bin ich, dass ich aufgeblüht
In deinem runden Kranz;
Zum Dank trüb′ ich die Quelle nicht
Und lobe deinen Glanz.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Zeit geht nicht... von Gottfried Keller

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Zeit geht nicht…“ von Gottfried Keller entwirft ein philosophisches Bild der menschlichen Existenz im Angesicht der Zeit, die in ihrer vermeintlichen Bewegungslosigkeit als Hintergrund für das menschliche Leben dargestellt wird. Die ersten beiden Strophen etablieren das zentrale Motiv: Die Zeit ist wie eine Karawanserei, ein Ort des Verweilens, während der Mensch, der Pilger, durch sie hindurchzieht. Diese Metapher deutet auf die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens und die scheinbare Ewigkeit der Zeit als Rahmen, in dem das Leben stattfindet. Die Zeit selbst wird als form- und farbenlos beschrieben, nimmt aber Gestalt an durch die Erfahrungen und das Wirken des Menschen.

In der dritten und vierten Strophe wird das Verhältnis von Zeit und Erfahrung konkretisiert. Einzelne Momente, wie ein Tautropfen oder ein Tag, können wertvoll und bedeutsam sein, „eine Perle“, während ein Jahrhundert wertlos erscheinen kann. Dies unterstreicht die subjektive Natur der Zeiterfahrung und die Bedeutung der individuellen Erlebnisse. Die Zeit wird in der vierten Strophe als ein „weisses Pergament“ dargestellt, auf das jeder Mensch mit seinem „roten Blut“ schreibt, also sein Leben und seine Erfahrungen. Dies verstärkt das Bild der Zeit als leeres Gefäß, das durch das individuelle Leben mit Bedeutung gefüllt wird. Die Verwendung von „rotem Blut“ impliziert die Intensität und Unauslöschlichkeit der menschlichen Existenz.

Die abschließenden Strophen reflektieren eine Haltung der Dankbarkeit und Wertschätzung gegenüber der Welt und dem Leben selbst. Der Dichter, der als Individuum „aufgeblüht“ ist, drückt seine Freude über die Schönheit und Wunder der Welt aus. Er fühlt sich als Teil eines „runden Kranzes“ und verpflichtet, die Quelle, aus der er schöpft, nicht zu trüben. Diese poetische Aussage unterstreicht das Bewusstsein für die Endlichkeit des eigenen Lebens und die gleichzeitige Dankbarkeit für die Schönheit und Großartigkeit der Welt. Der „Liebesbrief“, den der Dichter auf das Pergament der Zeit schreibt, ist somit ein Ausdruck seiner Wertschätzung und seines Erlebens.

Insgesamt ist das Gedicht eine Reflexion über die Zeit, die menschliche Existenz und die Bedeutung von Erfahrung und Wertschätzung. Es ist ein Plädoyer für die aktive Gestaltung des eigenen Lebens im Angesicht der Vergänglichkeit und ein Ausdruck der Dankbarkeit für die Schönheit der Welt, die uns umgibt. Kellers Sprache ist bildreich und symbolträchtig, wodurch er die abstrakten Konzepte von Zeit und Existenz mit konkreten Bildern und Emotionen füllt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.