Die Sonnenuhr
Selten reicht ein Schauer feuchter Fäule
aus dem Gartenschatten, wo einander
Tropfen fallen hören und ein Wander-
vogel lautet, zu der Säule,
die in Majoran und Koriander
steht und Sommerstunden zeigt;
nur sobald die Dame (der ein Diener
nachfolgt) in dem hellen Florentiner
über ihren Rand sich neigt,
wird sie schattig und verschweigt -.
Oder wenn ein sommerlicher Regen
aufkommt aus dem wogenden Bewegen
hoher Kronen, hat sie eine Pause;
denn sie weiß die Zeit nicht auszudrücken,
die dann in den Frucht- und Blumenstücken
plötzlich glüht im weißen Gartenhause.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Sonnenuhr“ von Rainer Maria Rilke beschreibt in einer fein beobachtenden Weise die Reaktionen einer Sonnenuhr auf verschiedene atmosphärische und menschliche Einflüsse. Es ist keine klassische Lobpreisung der Zeit, sondern vielmehr eine subtile Reflexion über die Vergänglichkeit und die Wahrnehmung von Zeit im Kontext der Natur und menschlicher Präsenz. Rilke konzentriert sich auf die besonderen Momente, in denen die Sonnenuhr ihre Funktion vorübergehend aufgibt oder verändert, wodurch die menschliche oder natürliche Aktivität in den Vordergrund rückt.
Die ersten Strophen etablieren das stille, fast mystische Leben der Sonnenuhr inmitten eines Gartens. Die „feuchte Fäule“ und der „Wandervogel“ deuten auf eine Welt des natürlichen Zerfalls und der zyklischen Veränderungen hin. Die Sonnenuhr selbst, umgeben von Kräutern wie „Majoran und Koriander“, scheint unberührt von diesen Veränderungen zu sein, bis eine menschliche Präsenz ins Spiel kommt. Der Moment, in dem „die Dame“ sich über ihren Rand neigt, unterbricht die scheinbare Unberührtheit der Sonnenuhr, indem sie schattig wird und schweigt. Dies deutet auf die Fähigkeit des Menschen hin, die natürliche Ordnung zu beeinflussen und die Wahrnehmung von Zeit zu verändern.
Die zweite Hälfte des Gedichts konzentriert sich auf die Reaktion der Sonnenuhr auf einen „sommerlichen Regen“. Auch hier, wenn die Natur in Form des Regens ihren Lauf nimmt und die „hohen Kronen“ sich „bewegen“, pausiert die Sonnenuhr. Sie kann die Zeit des Regens nicht „auszudrücken“, da die Zeit in den blühenden Garten mit seinen „Frucht- und Blumenstücken“ übergeht, was einen Moment des Stillstands und der Konzentration auf die Schönheit der Natur hervorruft. Die Sonnenuhr wird hier zum passiven Beobachter, der die Fähigkeit zur Zeitmessung vorübergehend aufgibt und sich der natürlichen Rhythmik unterordnet.
Das Gedicht ist von einer melancholischen Schönheit geprägt. Rilke beschreibt die Sonnenuhr nicht als kalte mechanische Apparatur, sondern als ein sensibles Element, das auf die Umgebung reagiert. Es ist eine subtile Meditation über die Beziehung zwischen Zeit, Natur und Mensch. Die Sonnenuhr, die sonst die Zeit anzeigt, wird hier zum Spiegelbild der menschlichen und natürlichen Erfahrung, in der die Wahrnehmung von Zeit fließend und von äußeren Einflüssen geprägt ist. Die poetische Sprache und die sorgfältige Beobachtung machen das Gedicht zu einem kleinen Meisterwerk, das zum Nachdenken über die Bedeutung von Zeit und die Schönheit der Vergänglichkeit anregt.
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Lizenz und Verwendung
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