»Ich breite über ihn mein Blätterdach,
So weit ich es vom Ufer strecken mag.
Schau her, wie langaus meine Arme reichen,
Ihm mit den Fächern das Gewürm zu scheuchen,
Das hundertfarbig zittert in der Luft.
Ich hauch′ ihm meines Odems besten Duft,
Und auf sein Lager lass′ ich niederfallen
Die lieblichste von meinen Blüten allen;
Und eine Bank lehnt sich an meinen Stamm,
Da schaut ein Dichter von dem Uferdamm,
Den hör′ ich flüstern wunderliche Weise
Von mir und dir und der Libell′ so leise,
Daß er den frommen Schläfer nicht geweckt;
Sonst wahrlich hätt′ die Raupe ihn erschreckt,
Die ich geschleudert aus dem Blätterhag.
Wie grell die Sonne blitzt! schwül wird der Tag.
O könnt′ ich, könnt′ ich meine Wurzeln strecken
Recht mitten in das tief kristall′ne Becken,
Den Fäden gleich, die, grünlicher Asbest,
Schaun so behaglich aus dem Wassernest,
Wie mir zum Hohne, die im Sonnenbrande
Hier einsam niederlechzt vom Uferrande.«
Die Linde
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Linde“ von Annette von Droste-Hülshoff ist eine lyrische Selbstbetrachtung eines Baumes, vermutlich einer Linde, die ihre Umgebung und ihre eigenen Erfahrungen mit großer Detailtreue und poetischer Sensibilität schildert. Der Baum, personifiziert und mit menschlichen Gefühlen versehen, nimmt seine Rolle als Schutz und Erholung für einen schlafenden Mann wahr, der vermutlich ein Dichter ist. Die Linde beschreibt liebevoll ihre Bemühungen, den Schlafenden zu schützen, indem sie ihm Schatten spendet, Insekten vertreibt und ihm ihren Duft und Blüten schenkt.
Das Gedicht ist reich an Naturbildern und Sinneswahrnehmungen. Die Linde beschreibt nicht nur die physischen Aspekte ihrer Umgebung, wie das „Blätterdach“, die „Arme“ und die „Blüten“, sondern auch die feineren Nuancen, wie den „besten Duft“ und das „wunderliche Weise“ Flüstern des Dichters. Die Beobachtung der Libelle und die Erwähnung der „Raupe“, die von der Linde abgewehrt wird, unterstreichen die Rolle des Baumes als Beschützer des Ruheortes. Durch diese detaillierte Beschreibung der Natur und ihrer Elemente, wird die Verbindung zwischen der Linde, dem Dichter und der Natur, die sie umgibt, deutlich gemacht.
Das Gedicht deutet auch auf eine tiefere Melancholie und Unzufriedenheit der Linde hin. Obwohl sie den Dichter beschützt und ihm Freude bereitet, sehnt sie sich nach einer tieferen Verbindung zur Natur und nach Erfrischung. Der Wunsch, ihre Wurzeln in das „tief kristall′ne Becken“ zu strecken, symbolisiert das Verlangen nach Kühlung und nach einer tieferen, greifbareren Verbindung zur Natur, die sie im gegenwärtigen Zustand vermisst. Die Hitze der Sonne und die Einsamkeit am Uferrand verstärken dieses Gefühl der Sehnsucht und des Leidens.
Die poetische Sprache, die Droste-Hülshoff verwendet, ist bildreich und emotional. Die Personifizierung der Linde ermöglicht es der Dichterin, menschliche Gefühle wie Fürsorge, Freude, aber auch Sehnsucht und Einsamkeit in die Natur hineinzutragen. Das Gedicht ist somit mehr als nur eine Beschreibung eines Baumes; es ist eine Reflexion über die Beziehung zwischen Mensch und Natur, über das Gefühl der Zugehörigkeit und des Verlustes und über die Suche nach Erfüllung. Es offenbart die Komplexität und Tiefe, die in der Natur und in der menschlichen Seele gleichermaßen existieren.
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Lizenz und Verwendung
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