Die Erwachsene
Das alles stand auf ihr und war die Welt
und stand auf ihr mit allem, Angst und Gnade,
wie Bäume stehen, wachsend und gerade,
ganz Bild und bildlos wie die Bundeslade
und feierlich, wie auf ein Volk gestellt.
Und sie ertrug es; trug bis obenhin
das Fliegende, Entfliehende, Entfernte,
das Ungeheuere, noch Unerlernte
gelassen wie die Wasserträgerin
den vollen Krug. Bis mitten unterm Spiel,
verwandelnd und auf andres vorbereitend,
der erste weiße Schleier, leise gleitend,
über das aufgetane Antlitz fiel
fast undurchsichtig und sich nie mehr hebend
und irgendwie auf alle Fragen ihr
nur eine Antwort vage wiedergebend:
In dir, du Kindgewesene, in dir.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Erwachsene“ von Rainer Maria Rilke entfaltet eine Betrachtung über die Reifung und die Last, die mit dem Erwachsenwerden einhergeht. Die „Erwachsene“ wird hier als eine Figur dargestellt, die die gesamte Welt – mit all ihren Freuden und Ängsten, ihrer Schönheit und ihrem Leid – in sich trägt. Rilke nutzt eindrucksvolle Bilder, um diese innere Größe und gleichzeitige Belastung zu veranschaulichen.
Die erste Strophe zeichnet ein Bild der „Erwachsenen“ als etwas, das fest und aufrecht steht, vergleichbar mit Bäumen, die in die Höhe wachsen. Sie verkörpert sowohl das Sichtbare als auch das Unsichtbare, das Bildhafte und das Bildlose. Der Vergleich mit der Bundeslade, die in der jüdischen Tradition als heiliger Behälter galt, unterstreicht die erhabene und geheimnisvolle Natur der Person. Diese Figur ist wie ein Monument, das über ein Volk gestellt ist, was die Verantwortung und die Bedeutung ihrer Existenz hervorhebt.
Die zweite Strophe beschreibt die Fähigkeit der „Erwachsenen“, die Last der Welt zu tragen. Sie erträgt das Flüchtige, das Unbekannte und das noch Unerlernte, ähnlich wie eine Wasserträgerin einen vollen Krug ohne zu schwanken trägt. Diese Ruhe und Gelassenheit werden jedoch von einem Moment der Transformation unterbrochen. Ein „weißer Schleier“ fällt über ihr Antlitz. Dieses Bild symbolisiert den Verlust der kindlichen Unbeschwertheit und den Eintritt in eine neue Phase der Existenz. Der Schleier, der sich nie mehr hebt, deutet auf die Unumkehrbarkeit dieses Prozesses hin.
Die letzte Strophe enthüllt die Antwort auf alle Fragen, die mit dem Erwachsenwerden verbunden sind: „In dir, du Kindgewesene, in dir.“ Diese Antwort deutet darauf hin, dass die Essenz der „Erwachsenen“ in ihrer Vergangenheit, in ihren Erfahrungen als Kind, liegt. Das Gedicht suggeriert, dass das Erwachsenwerden eine kontinuierliche Reise ist, bei der das Kindliche nicht vollständig verloren geht, sondern als prägender Teil der Identität innewohnt. Es ist eine Reflexion über die Komplexität des Menschseins und die Suche nach Sinn und Identität im Laufe des Lebens.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.