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Die beiden Sängerheere

Von

Einst schlief ich im düstern Ulmenhain
Nicht fern von den Särgen der Barden ein,
Mich sangen die Vögel des Waldes in Ruh,
Es rauschten die Zweige wie Lieder dazu.

Als jegliches Aug’ in Schlummer schon brach
Und Kummer allein und Liebe noch wach,
Da rüttelt’s und schüttelt’s an Riegel und Sarg,
Da rüttelt und sprengt es Riegel und Sarg.

Wie Woge an Woge im brausenden Meer,
Ersteht aus den Särgen ein Harfnerheer,
Wohl tausend Gestalten im regen Gewühl,
In knöchernen Armen ein Saitenspiel.

Die Lippen sind dürr und der Blick ist kalt,
Die bleiche Wange verfallen und alt,
Und mit den Händen ohne Gefühl
Gepocht und gehämmert am Saitenspiel.

Und wie sie auch pochen und hämmern im Chor,
Kein Ton und kein Laut schlägt an mein Ohr;
Nur Eulen flattern aus dem Versteck
Und Kobolde grinsen im Felsenleck.

Und unter den Harfnern das Gras verdorrt,
Der Mond sein züchtig Antlitz umflort;
So klimpern allnächtlich zur Mitternachtzeit
Ihr ewiges Lied sie: Vergessenheit!

Jetzt schallt’s wie der Engel Posannenruf,
Als Welten und Leben der Ewige schuf;
Es rauschen des Haines Gezweige so hell,
Es säuselt die Wiese, es rieselt der Quell.

Da klappen wohl tausend der Särge zu:
Das Lei’rergesindel taumelt zur Ruh;
Da springen wohl tausend Särge auf:
Ein Sängergeschlecht beginnt seinen Lauf!

Ein körnig Geschlecht für endlose Zeit,
Gesäugt an den Brüsten der Ewigkeit,
Das Auge ein Blitz und doch so mild,
Das Antlitz der Liebe rosiges Bild.

Und siehe, der herrliche Bardenchor
Hebt rauschend die klingenden Harfen empor,
Wie Seraphsgebet, wie Lavinenklang
Verhallt’ es die weiten Gefild’ entlang.

Es horchen die Wasser und hemmen den Lauf,
Die Rosen blühn, als sei Frühling, auf,
Und um sie in vollerem Mondenschein
Drehn schöne Elfenkinder den Reihn.

In Wonne schüttelt sein Haupt der Baum,
Der Vogel am Ast träumt süßeren Traum;
So singen allnächtlich zur Mitternachtzeit
Ihr ewiges Lied sie: Unsterblichkeit!

Wie liederbegrüßt und rosenbekränzt
Die sinkende Sonn’ im Berggrab glänzt,
So rauscht es noch einmal durch Erd’ und Luft
Und alle die Sänger versinken zur Gruft.

Da rüttelt’s mich rasch aus dem Schlummer auf;
Im Osten beginnt die Sonne den Lauf,
Die Steine sind fest, geschlossen die Gruft,
Und leis weht darüber die Morgenluft.

Und sind auch die Sänger alle zur Ruh
Und ihre ewigen Wohnungen zu,
Blieb eines der beiden Lieder mir doch,
Das sang ich und sing’ es wohl sterbend noch.

Doch welches der Heere zum Sang mich geweiht?
Du wirst es enthüllen, Allrichterin Zeit!
Wenn über dem Sarg mir die Grabrose blüht,
Sing’ ich wohl mit einem der Heere mein Lied.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die beiden Sängerheere von Anastasius Grün

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die beiden Sängerheere“ von Anastasius Grün ist eine vielschichtige Ballade, die die Gegensätze von Vergänglichkeit und Unsterblichkeit, Tod und Leben, Finsternis und Licht thematisiert. Das lyrische Ich erlebt in einem nächtlichen Traum zwei aufeinanderfolgende Visionen von Sängerheeren, die jeweils entgegengesetzte Themen besingen. Der erste Chor, ein Heer aus Toten, besingt die Vergessenheit, während der zweite Chor, ein Heer lebendiger Sänger, die Unsterblichkeit feiert.

Der erste Teil des Gedichts beschreibt eine düstere Szenerie, in der die Toten aus ihren Gräbern aufsteigen und auf knöchernen Fingern auf ihren Harfen ein Lied der Vergessenheit anstimmen. Die Atmosphäre ist von Kälte, Leere und Hoffnungslosigkeit geprägt. Die Natur reagiert auf das Lied der Toten mit Verdorren und Verfinsterung. Die Metaphern von „dürren Lippen“ und „kaltem Blick“ sowie das Fehlen von „Ton und Laut“ unterstreichen die Trostlosigkeit dieses Reiches. Die Vergessenheit wird als das Ende des Lebens dargestellt, als die Auflösung aller Erinnerung.

Im Gegensatz dazu steht das zweite Sängerheer, das von Leben und Schönheit strotzt. Dieses Heer, das aus den Gräbern entspringt, besingt die Unsterblichkeit. Die Natur erwacht zu neuem Leben, die Rosen blühen, und Elfen tanzen im Mondschein. Die Sprache ist voller Leben und Sinnlichkeit. Das „Auge ein Blitz und doch so mild“ und das „Antlitz der Liebe rosiges Bild“ stehen im Kontrast zur Kälte des ersten Heeres. Hier wird die Unsterblichkeit als ein Zustand ewiger Schönheit und Liebe gefeiert.

Die abschließende Strophe des Gedichts lässt die Frage nach der Identität des wahren Sängerheeres offen. Das lyrische Ich erwacht aus seinem Traum und trägt die Melodie eines der Heere in sich, ohne zu wissen, welches. Die „Allrichterin Zeit“ soll diese Frage beantworten, wenn über dem Grab des Erzählers die Grabrose blüht. Dies unterstreicht die metaphysische Natur des Gedichts und die Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen. Es deutet darauf hin, dass die Entscheidung, welches Lied man singt, erst am Ende des Lebens getroffen wird.

Grüns Gedicht ist mehr als nur ein lyrisches Gemälde von Gegensätzen. Es ist eine Reflexion über die menschliche Existenz, die Frage nach dem Sinn des Lebens und die Hoffnung auf eine transzendente Wirklichkeit. Die klare Struktur des Gedichts, die bildhafte Sprache und die Verwendung von starken Gegensätzen machen es zu einem eindrucksvollen Zeugnis der Romantik, das bis heute Leserinnen und Leser anzieht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.