Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , ,

Der Skorpion, die Schildkröte und die Gans

Von

Eine Traumfabel.

Am weidenreichen Spreegestade,
Wo die gesicherte Najade
Ihr lockigt Haupt noch stolzer trug,
Seitdem in Sachsenland Held Heinrich Feinde schlug;
Am Spreegestade kroch aus einem holen Baum
Ein Skorpion, das glaubt man kaum.
Giebts zu Berlin auch Skorpionen?
Ich dachte, daß sie nur in heißen Ländern wohnen.
Mein Leser, höre doch, ich sah ihn nur im Traum.
Er kroch am Ufer hin und wieder,
Und sah, von bittern Neid bewegt,
Ins grüne Schilf scheelsüchtig nieder
Auf ein Geschöpf, das sich mit breitem Schilde trägt,
Und schmackhaft ist am Fleisch, und nach dem Tode glänzet
In seinem Deckel schön polirt.
Der Skorpion mit Gift zum Schadenthun geschwänzet
Von der Natur, und nicht geziert
Mit bunten Flecken, wie die Schlangen,
Der Skorpion kroch an das Schilf
Und sprach: dir Freundin sey geklaget mein Verlangen,
Dort übern Strome will mein Bruder mich umfangen,
Und schwimmen kann ich nicht; du aber kannst, ach hilf
Mit deinen Rudern mir herüber!
Die Kröte mit dem Schilde spricht:
Gefälligkeit ist meine Pflicht,
Und kein Geschäfte war mir lieber
Als dies; mein Schild ist breit genug.
Sie sprichts: er setzt sich auf und da sie nun getreulich
Den giftigen Verräther trug,
Schwamm eine Gans daher und schlug
Mit beiden Flügeln auf, und schrie: das ist abscheulich!
Jetzt flößt dir guten Schwimmerin
Der, den du trägst, das Gift im Rücken.
Verdammter! sprach hierauf die treue Trägerin,
Mich panzert die Natur zu sehr vor deinen Tücken,
Dein Gift floß schadlos in den Fluß;
Sey du ihm nachgestürzt! Hier tauchte sie ihn nieder –
Der Skorpion hat noch viel Schwestern und viel Brüder.
O daß nicht jeder Mensch nach dem Verräther Kuß,
Den er gegeben hat, also ersaufen muß!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der Skorpion, die Schildkröte und die Gans von Anna Louisa Karsch

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Skorpion, die Schildkröte und die Gans“ von Anna Louisa Karsch ist eine eindrucksvolle Traumfabel, die auf allegorische Weise menschliche Charaktere und moralische Werte verhandelt. Die Szenerie ist an der Spree angesiedelt, in einer Idylle, die durch historische Bezüge (Held Heinrich) und die Beschreibung der Natur verfeinert wird. Der Einstieg mit der Frage nach der Existenz von Skorpionen in Berlin stellt einen humorvollen Bruch dar, der den Leser in die Welt der Traumfabel einführt und dessen Erwartungen spielerisch untergräbt. Die Traumhaftigkeit wird betont, indem die Autorin die Geschichte als „Traumfabel“ kennzeichnet.

Die Figurenkonstellation ist klar gegliedert und symbolträchtig. Der Skorpion verkörpert den Verrat und die zerstörerische Natur, die Schildkröte die Gutgläubigkeit und Hilfsbereitschaft und die Gans die warnende Stimme der Vernunft. Der Skorpion, als „giftiger Verräter“ beschrieben, nutzt die Hilfsbereitschaft der Schildkröte, um seinen eigenen Vorteil zu erlangen, während die Gans als Mahnerin die drohende Gefahr erkennt. Die Schildkröte, blind für die Boshaftigkeit des Skorpions, lässt sich von dessen manipulativen Worten täuschen. Die Gans ist hier eine Art Moralinstanz, die die Gefahr erkennt und warnt, aber zu spät kommt, um die Katastrophe zu verhindern.

Der Verlauf der Fabel ist dramatisch zugespitzt. Die Schildkröte, getrieben von Pflichtgefühl und Gutgläubigkeit, nimmt den Skorpion auf ihren Rücken. Die Gans, die die Gefahr erkennt, warnt vergeblich. Das Ende, in dem der Skorpion erfolglos sein Gift einsetzt und gemeinsam mit der Schildkröte ertrinkt, ist eine drastische Auflösung. Die Natur, durch die Panzerung der Schildkröte, schützt diese vor dem Gift.

Die abschließende Moral der Fabel, die vom Erzähler gesprochen wird, ist deutlich und mahnend: „O daß nicht jeder Mensch nach dem Verräther Kuß, / Den er gegeben hat, also ersaufen muß!“. Sie verallgemeinert die erzählte Geschichte und überträgt sie auf die menschliche Gesellschaft. Hier wird vor den Folgen von Verrat und Täuschung gewarnt und die Bedeutung von Misstrauen und Wachsamkeit betont. Der Skorpion steht als Symbol für alle Arten von negativen Einflüssen, die die Gutgläubigkeit des Menschen ausnutzen.

Die Sprache des Gedichts ist bildhaft und direkt. Karsch verwendet einfache Worte und klare Bilder, um die Handlung zu erzählen und die Charaktere zu beschreiben. Der Rhythmus ist fließend, und die Reime verstärken die eingängige Wirkung. Durch die Wahl der Tiere als Protagonisten und die Traumfabel-Form gelingt es Karsch, eine tiefgründige moralische Botschaft in einer leicht verständlichen und fesselnden Weise zu vermitteln.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.