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Der Schwester Traum

Von

Sie schläft. – Es ist die letzte Nacht des Jahres,
Und wenn die Morgenglocken wieder tönen,
Grüßt eine neue Zeit das holde Kind.

Man sagt, in dieser letzten Mitternacht
Entsteigen ihren Gräbern manche Schatten,
Die Seelen schweben von dem Himmel nieder,
Die Heimat und die Freunde zu besuchen.
Auch sie gedachte dieser alten Sage,
Als sie im stillen, einsamen Gemach
Die Ruhe suchte, und den schönen Augen
Entströmten Tränen. Doch, nicht kind′sche Angst
Vor der geheimnisvollen Wiederkehr
Geschiedner Geister trübte ihre Blicke;
Nein, die Erinnrung an geliebte Schatten,
Die Wehmut um so manches teure Grab
Senkte sich nieder in die stille Seele;
Sie hat für sie gebetet und geweint.

Sie schlummert; und es nahen die Verlornen,
Die schönen Toten, ihrem stillen Lager,
Die Schwestern ihrer Jugend stehen auf
Von einer Welt, wo keine Blüte stirbt.

Erkennst du sie? Du siehst sie nimmer wieder
Als blühende, als irdische Gestalten;
Nicht wie sie Blumen pflückten, Kränze banden,
Nicht wie sie um den trauten Winterherd
Die schaurig-schönen Märchen dir erzählten,
Nicht wie du ihnen unter Lust und Scherz
Zum Maienfest die schönen Haare flochtest –
Dies alles blieb in ihrem frühen Grab.
Sie nahen dir mit geisterhaftem Schimmer,
Umstrahlt von heil′gem, überird′schem Glanz.
Doch, sind die Blütenkränze abgestreift,
Ist ihrer Jugend Schmuck im Sarg zerfallen,
Sie bringen doch die alte Liebe mit,
Und sanfter, als in ihrer Erdenschöne,
Und weich und zärtlich wie der Lampe Licht,
Das deine milden Züge still umschwebt,
Sind sie genaht, und deinem geist′gen Blick
Begegnen grüßend ihre lichten Augen,
Von Strahlen der Unsterblichkeit gefüllt.

Sie segnen dich; von ihren heil′gen Lippen
Ertönt es wie der Äolsharfe Ton,
Wenn lieblich flüsternd durch die feinen Saiten
Der Hauch des Abends weht: »Geliebte Schwester,
Wir denken deiner und wir sind dir nah,
Und segnend schweben wir um deine Tritte,
Sooft dein Aug im schönen Morgenrot,
Im heitern Blau des Mittags sich ergeht,
Trifft uns dein Blick; siehst du den Wölkchen nach,
Die in dem Meer der Abendröte segeln,
Dort schiffen wir; und auf des Mondes Strahl,
Der mild und freundlich in dein Fenster fällt,
Entschweben wir von deinem stillen Lager
Mit deinen Tränen nach den sel′gen Höhn.«

So flüstern sie und neigen sich herab,
Die Stirn der teuern Schlafenden zu küssen
Und dann beflügelt, eh sie schnell erwacht,
Eh ihre Augen die Erscheinung haschen,
Im milden Strahl des Mondes aufzuschweben
Nach sel′gen Höhn. Ja dort, wo anders fände
Die Schwesterliebe ihre ew′ge Heimat?
So stürmisch nicht, nicht so voll hoher Worte
Wie Bruderliebe, doch nicht minder tief,
Gleicht sie dem Bergsee, der in heil′ger Stille
Den Himmel und die friedlichen Gestade
Getreuer widerspiegelt als der Bergstrom,
Der Bild und Ufer in sein Bett begräbt.

Ja, tief und heilig ist die Schwesterliebe
Und zarter, rührender erscheint sie kaum,
Als wenn sie über Gräbern noch sich findet,
Wenn sie den Himmel an die Erde bindet,
Und Tote leben in der Schwester Traum.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der Schwester Traum von Wilhelm Hauff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Schwester Traum“ von Wilhelm Hauff beschreibt eine berührende Vision der Verstorbenen, die in der Silvesternacht einer schlafenden Schwester erscheinen. Das Gedicht zeichnet ein Bild der Liebe, des Trostes und der Hoffnung auf ein Wiedersehen, indem es die Grenzen zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits verwischt. Der Traum der Schwester wird zum Schauplatz einer Begegnung mit den geliebten, verstorbenen Schwestern, die in einer überirdischen Schönheit zurückkehren, um Segen zu spenden und Trost zu spenden.

Die Struktur des Gedichts ist in mehrere Abschnitte gegliedert, die den Ablauf des Traums und die Botschaften der verstorbenen Schwestern widerspiegeln. Zunächst wird die Szene der Silvesternacht und der schlafenden Schwester beschrieben. Die Erwartung der Geister, die aus ihren Gräbern aufsteigen, schafft eine Atmosphäre der Spannung und des Geheimnisses. Anschließend werden die verstorbenen Schwestern in ihrer transzendenten Form vorgestellt, strahlend in einem heiligen Glanz. Sie sind nicht mehr die irdischen Wesen, die Blumen pflückten und Geschichten erzählten, sondern reine Geister, die ihre Liebe und ihren Segen in den Traum der Schwester bringen.

Der Kern der Botschaft liegt in den Worten der verstorbenen Schwestern. Sie versichern ihrer lebenden Schwester ihre Nähe und ihren anhaltenden Segen. Sie sind in jedem Moment des Tages präsent, im Morgenrot, im Mittag, auf den Wolken und im Mondschein. Ihre Liebe ist sanft und zärtlich, wie das Licht einer Lampe, das die Züge der Schwester sanft umspielt. Die Verbindung wird als unauflösliche Bindung dargestellt, die sogar über den Tod hinausreicht und in der Schwesterliebe eine ewige Heimat findet.

Hauff verwendet eine sehr poetische Sprache, um die zarten und ergreifenden Emotionen zu vermitteln. Die Bilder sind reich und bildhaft, mit Vergleichen zur Natur, wie der Äolsharfe, dem Mond und dem Bergsee. Durch die Verwendung von Adjektiven wie „heilig“, „sanft“ und „zärtlich“ wird eine Atmosphäre des Friedens, der Liebe und des Trostes geschaffen. Die Metapher des Bergsees, der den Himmel und die Gestade getreuer widerspiegelt als ein reißender Fluss, unterstreicht die Tiefe und Reinheit der Schwesterliebe.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gedicht „Der Schwester Traum“ eine wunderschöne Ode an die Schwesterliebe ist, die sogar über den Tod hinaus Bestand hat. Es ist eine Reflexion über die unzerbrechliche Verbindung zwischen Geschwistern, die durch Träume und die Vorstellung einer jenseitigen Welt veranschaulicht wird. Hauff vermittelt Trost und Hoffnung, indem er die Vorstellung von einem Wiedersehen und der anhaltenden Präsenz der geliebten Verstorbenen in den Mittelpunkt stellt. Die Botschaft des Gedichts ist universell und spricht die Sehnsucht nach Liebe, Trost und ewiger Verbundenheit an.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.