Der Prophet
In einer Halle hat er mich empfangen
Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt
Von süssen Düften widerlich durchwallt,
Da hängen fremde Vögel, bunte Schlangen,
Das Tor fällt zu, des Lebens Laut verhallt
Der Seele Athmen hemmt ein dumpfes Bangen
Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen
Und alles flüchtet, hilflos, ohne Halt.
Er aber ist nicht wie er immer war.
Sein Auge bannt und fremd ist Stirn und Haar.
Von seinen Worten, den unscheinbar leisen
Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen
Er macht die leere Luft beengend kreisen
Und er kann töten, ohne zu berühren.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Prophet“ von Hugo von Hofmannsthal beschreibt die beklemmende Begegnung des lyrischen Ichs mit einer mysteriösen, scheinbar übernatürlichen Figur, dem „Propheten“. Die erste Strophe etabliert eine Atmosphäre der Beklommenheit und des Unbehagens. Die „Halle“, der Ort des Zusammentreffens, wirkt durch „süße Düfte“ und die Präsenz „fremde Vögel“ und „bunte Schlangen“ sowohl anziehend als auch abstoßend. Diese widersprüchlichen Eindrücke deuten bereits auf die ambivalente Natur des Propheten und seiner Wirkung hin. Die geschlossene Umgebung, das „Tor [fällt] zu“, unterstreicht das Gefühl der Gefangenschaft und des Ausschlusses von der Außenwelt, symbolisiert durch das „Verhallen“ des „Lebens Lauts“.
Die zweite Strophe verstärkt die Eindrücke der Bedrohung und der Entmachtung des lyrischen Ichs. Das „dumpfes Bangen“ unterstreicht die Angst, die mit dem Aufenthalt in der Halle einhergeht, während ein „Zaubertrunk“ die Sinne des Ichs gefangen hält. Diese Gefangenschaft wird durch die Hilflosigkeit des Ichs verdeutlicht, das „ohne Halt“ allem zu entfliehen versucht. Die Beschreibung des Propheten selbst, der „nicht wie er immer war“, deutet auf eine Veränderung, eine Erhöhung seiner Macht hin. Seine Erscheinung, sein „Auge“, seine „Stirn“ und seine „Haare“ wirken „fremd“ und lassen auf eine transformative Erfahrung schließen, die nicht nur ihn, sondern auch das lyrische Ich betrifft.
Die dritte Strophe beschreibt die Wirkung des Propheten mit großer Eindringlichkeit. Seine „Worte“, zunächst „unscheinbar leise“, entfalten eine ungeheure Macht, eine „Herrschaft“ und „Verführung“, die auf das lyrische Ich ausgeht. Der Prophet manipuliert die Umgebung, indem er „die leere Luft beengend kreisen“ lässt, was die Gefangenschaft noch verstärkt. Die beklemmende Macht des Propheten erreicht in der letzten Zeile ihren Höhepunkt: Er „kann töten, ohne zu berühren“. Diese Fähigkeit unterstreicht die absolute Macht des Propheten und die Ohnmacht des lyrischen Ichs, dem kein Widerstand mehr möglich ist.
Insgesamt ist das Gedicht eine eindringliche Darstellung der Unterwerfung unter eine übermächtige, rätselhafte Gestalt. Es thematisiert die Faszination und die Gefahren von Macht und Verführung, die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber einer überlegenen Autorität. Die Sprache ist durch die Bildlichkeit, die Kontraste und die suggestiven Adjektive von großer Intensität und erzeugt eine Atmosphäre von Mysterium und Schrecken. Der „Prophet“ kann als Metapher für eine innere oder äußere Kraft gelesen werden, die das Individuum überwältigt und zerstört, ein Thema, das in Hofmannsthals Werk immer wieder anklingt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.