Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, ,

Der Kranz

Von

Sie war kaum aus dem Kinderkleid,
Das Mieder war ihr noch zu weit,
Da liefen schon am hellen Tag
Ihr alle flinke Bursche nach.
Sie ließ es ohne Zank geschehn,
Hat sich auch manchmal umgesehn.

Die Mutter sprach: »Nimm dich in acht!
Schon manche Dirne hat′s gebracht
Um′s grüne Kränzchen in dem Haar,
Daß sie im Dorf die Schönste war.«
Da fiel es erst der Tochter ein:
»Sollt ich denn wohl die Schönste sein?«

Nach einer Quelle tät sie spähn,
Sie wollte sich darin besehn,
In manche guckte sie hinein,
Doch keine war recht klar und rein;
Da kam ein Jäger frank und frei,
Und sagt′ es ihr, wie schön sie sei.

Und siehe, schon im andern Jahr
Hat sie den grünen Kranz im Haar,
Hat sie den grünen Mann im Arm,
Hat sie im Hause Reigenschwarm;
Da lacht sie keck der Alten zu:
»Nun, Mutter, sag, was meintest du?«

Die Mutter sprach: »Nimm dich in acht!«
Und ach, noch in derselben Nacht
Fiel ihr das Kränzchen aus dem Haar;
Da seufzte sie: »Es ist doch wahr!«
Und fragte nie die Mutter mehr,
Wie′s mit dem Kranz gemeinet wär.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der Kranz von Wilhelm Müller

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Kranz“ von Wilhelm Müller erzählt eine Geschichte über die Entwicklung eines jungen Mädchens zur Frau, ihren Verlust der Unschuld und die daraus resultierenden Konsequenzen. Der Titel, der sich auf den grünen Kranz bezieht, der als Symbol für Unschuld, Schönheit und möglicherweise auch Ehe fungiert, deutet bereits auf die zentrale Thematik des Gedichts hin: den Verlust dieser Unschuld und die Erfahrung der Welt.

Die erste Strophe beschreibt die frühe Jugend der Protagonistin, in der sie von zahlreichen jungen Männern begehrt wird. Ihr lockeres Verhalten und das „Ohne Zank geschehn“ lassen vermuten, dass sie die Aufmerksamkeit genießt, aber noch keine tieferen Gefühle entwickelt hat. Die Mutter, die in der zweiten Strophe mahnt, warnt sie vor den Gefahren, die mit diesem Verhalten einhergehen, und thematisiert den Verlust des grünen Kranzes, also der Unschuld. Die Tochter, zunächst naiv, beginnt durch diese Warnung, sich ihrer eigenen Schönheit und der damit verbundenen Macht bewusst zu werden.

Die dritte Strophe markiert den Wendepunkt. Das Mädchen sucht nach Bestätigung ihrer Schönheit, findet diese aber erst in der direkten Aussage eines Jägers. Diese Anerkennung führt dazu, dass sie im darauffolgenden Jahr tatsächlich den grünen Kranz trägt – ein Symbol für ihren Eintritt in die Welt der Erwachsenen und ihre Beziehung zu einem Mann. In der folgenden Strophe präsentiert Müller eine Phase des Glücks, die jedoch nur von kurzer Dauer ist.

Die letzte Strophe enthüllt die Tragik des Gedichts. Die Mutter, die noch immer warnt, wird von der Tochter verspottet. Doch noch in derselben Nacht verliert das Mädchen ihren Kranz, und es wird deutlich, dass die anfängliche Freude nur trügerisch war. Die Erkenntnis „Es ist doch wahr!“ signalisiert das Eingeständnis der Tochter, dass die Warnungen der Mutter berechtigt waren, und dass sie nun die Konsequenzen ihres Handelns trägt. Das Gedicht endet mit einem Gefühl der Reue und des Verlustes, ein deutliches Zeichen der verlorenen Unschuld.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.