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Der Kirchenbesuch

Von

Wie ein Fischlein in dem Garn
Hat der Dom mich eingefangen,
Und da bin ich festgebannt,
Warum bin ich dreingegangen?
Ach, wie unter breiten Malven
Taubesprengt ein Röslein blitzt,
Zwischen guten Bürgersfrauen
Hier mein feines Liebchen sitzt!

Die Gemeinde schnarcht so sanft,
Wie das Laub im Walde rauschet,
Und der Bettler an der Tür
Als ein Räuber guckt und lauschet;
Doch wie eines Bächleins Faden
Murmelnd durchs Gebüsche fließt,
So die lange dünne Predigt
Um die Pfeiler sich ergießt.

Eichenbäume, hoch und schlank,
All die gotischen Pfeiler ragen;
Ein gewölbtes Blätterdach
Ihre krausen Äste tragen;
Untenher spielt hin und wieder
Dämmerhaft ein Sonnenschein;
Wachend sind in dieser Stille
Nur mein Lieb und ich allein.

Zwischen uns webt sich ein Netz
Von des Lichts gebrochnem Strahle,
Drin der Taufstein, grün und rot,
Wandelt sich zur Blumenschale;
Ein geflügelt Knäblein flattert
Auf des Deckels altem Knauf,
Und es gehen uns im Busen
Auch der Sehnsucht Rosen auf.

Weit hinaus, ins Morgenland,
Komm, mein Kind, und laß uns fliegen,
Wo die Palmen schwanken am Meer
Und die sel′gen Inseln liegen,
Flutend um die große Sonne,
Grundlos tief die Himmel blaun:
Angesichts der freien Wogen
Unsre Seelen frei zu traun!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der Kirchenbesuch von Gottfried Keller

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Kirchenbesuch“ von Gottfried Keller beschreibt die ambivalente Erfahrung eines lyrischen Ichs während eines Gottesdienstes, wobei die eigentliche Intention des Besuchs weniger in der religiösen Zeremonie, sondern vielmehr in der Anwesenheit der geliebten Person liegt. Der Eingangsvers „Wie ein Fischlein in dem Garn / Hat der Dom mich eingefangen“ verdeutlicht bereits die Zwangsläufigkeit und das Gefühl des Gefangenseins, das durch die Architektur des Doms und die Predigt evoziert wird. Die Frage „Warum bin ich dreingegangen?“ offenbart die innere Zerrissenheit und die Distanz des Ichs zur religiösen Handlung.

Die zweite Strophe verlagert den Fokus auf die äußeren Umstände des Kirchenbesuchs und kontrastiert die schläfrige Gemeinde mit der erhofften Nähe zum geliebten „feinen Liebchen“. Die Beschreibung der Predigt als „lange dünne Predigt / Um die Pfeiler sich ergießt“ unterstreicht die subjektive Wahrnehmung der Langeweile und Distanziertheit zur religiösen Botschaft. Die Naturmetaphern, wie das „Laub im Walde“, erzeugen eine akustische Untermalung, die die Atmosphäre der Kirche widerspiegelt. Die Präsenz des Bettlers am Eingang als „Räuber“ fügt eine subtile Spannung hinzu, die die innere Unruhe des Ichs weiter verstärkt.

In der dritten Strophe wird die gotische Architektur des Doms in den Mittelpunkt gerückt. Die Beschreibung der „Eichenbäume, hoch und schlank, / All die gotischen Pfeiler ragen“ und des „gewölbten Blätterdach[s]“ erzeugt eine eindrucksvolle Szenerie, die jedoch von der Sehnsucht nach dem geliebten Menschen überlagert wird. Der „Dämmerhaft[e] Sonnenschein“ und die Stille bieten den beiden Liebenden einen privaten Raum, in dem sie sich von der Umgebung absondern können. Die Erkenntnis „Wachend sind in dieser Stille / Nur mein Lieb und ich allein“ verdeutlicht die tiefe emotionale Verbindung der beiden Personen.

Die abschließende Strophe gipfelt in einem sehnsüchtigen Ausblick auf eine gemeinsame Zukunft. Das „Netz von des Lichts gebrochnem Strahle“ und die Metamorphose des Taufsteins zur „Blumenschale“ symbolisieren die Verwandlung des sakralen Raums in einen Ort der Liebe und Hoffnung. Der Wunsch nach einer Flucht „ins Morgenland“ und die Vision von „Palmen“ und „sel′gen Inseln“ verkörpern die Sehnsucht nach Freiheit, Glück und einer erfüllten Beziehung, fernab der Zwänge und Konventionen der Gesellschaft. Die abschließende Zeile „Unsre Seelen frei zu traun!“ drückt den Wunsch nach einer tiefen, unbeschwerten Verbindung aus, die über die momentane Situation hinausreicht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.