O Mutter, warum wecktest
Du mich nicht auf, als strahlend,
Wie du mir sagst, das Nordlicht
Des halben Himmels Wölbung
Erleuchtete? Ich habe,
Das weißt du, nie ein Nordlicht
Gesehn. Mit Freude hätte,
Des starken Frosts nicht achtend,
Mein Lager ich verlassen,
Um Gottes nächtlich Wunder
Anbetend zu betrachten.
Du weißt, daß wilde Völker,
Noch unbekannt mit unsrer
Von Gott gekommnen Lehre,
In ihrer Einfalt diese
Erhabene Erscheinung
Das Land der Seelen nennen.
Wer weiß, ob ihre Meinung
Nicht Wahrheit ist? Wir hätten
Vielleicht, o gute Mutter,
Im Land der Seelen Vater
Gesehen oder meine
Mir unbekannten Brüder,
Die, eh′ ich auf die Welt kam,
Die Welt verlassen hatten,
Und nun bei Gott im klaren
Und ew′gen Lichte wohnen.
Das Nordlicht
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Das Nordlicht“ von Elisabeth Kulmann ist eine berührende Reflexion über verpasste Gelegenheiten, das Mysterium des Todes und die Sehnsucht nach dem Jenseits. Das lyrische Ich, wahrscheinlich ein Kind oder eine erwachsene Person, beklagt die verpasste Chance, das Nordlicht zu sehen, das für sie ein Tor zu einer tieferen, spirituellen Erfahrung hätte werden können. Die Einfachheit der Sprache und die Direktheit der Anrede an die Mutter erzeugen eine Atmosphäre der Intimität und des Bedauerns.
Die zentralen Themen des Gedichts kreisen um das Unbekannte, die Faszination des Übernatürlichen und die Frage nach dem Leben nach dem Tod. Das Nordlicht, als „Gottes nächtlich Wunder“ beschrieben, symbolisiert eine Verbindung zur göttlichen Welt und zu den Geheimnissen des Universums. Die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach dieser Erfahrung spiegelt den Wunsch nach transzendentalen Erkenntnissen und nach der Begegnung mit dem Unbekannten wider. Interessant ist, wie Kulmann die naive Weltsicht des Kindes mit dem Wissen um den Tod verbindet, indem sie die traditionelle Sichtweise der wilden Völker auf das Nordlicht aufgreift, welches diese als Land der Seelen verstehen.
Der Bezug zur „Von Gott gekommnen Lehre“ und die Erwähnung „meiner mir unbekannten Brüder“ offenbaren eine tiefe Auseinandersetzung mit Glaubensfragen und der persönlichen Sterblichkeit. Die Vorstellung, im Licht des Nordlichts den Vater oder die verstorbenen Brüder zu sehen, ist Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach Wiedervereinigung und nach Trost im Angesicht des Todes. Die Frage, ob die Sicht der „wilden Völker“ nicht vielleicht der Wahrheit näherkommt, deutet auf eine Skepsis gegenüber dogmatischen Glaubensvorstellungen und auf die Suche nach einer individuellen spirituellen Wahrheit.
Die Verwendung von einfachen, klaren Bildern und die emotionale Direktheit der Sprache verstärken die Wirkung des Gedichts. Die Leser können die Trauer des lyrischen Ichs und seine Sehnsucht nach dem Jenseits nachvollziehen. Der Kontrast zwischen der ergreifenden Schönheit des Nordlichts und der verpassten Gelegenheit, es zu sehen, unterstreicht die Vergänglichkeit des Lebens und die Notwendigkeit, offen für die Wunder der Welt und für spirituelle Erfahrungen zu sein. Das Gedicht endet mit einem Gefühl des Bedauerns, aber auch mit einem stillen Glauben an die Möglichkeit einer Wiedervereinigung im Jenseits.
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