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Das nächtliche Geheimniss

Von

Gestern Nachts, als Alles schlief,
Kaum der Wind mit ungewissen
Seufzern durch die Gassen lief,
Gab mir Ruhe nicht das Kissen,
Noch der Mohn, noch, was sonst tief
Schlafen macht – ein gut Gewissen.
Endlich schlug ich mir den Schlaf
Aus dem Sinn und lief zum Strande.
Mondhell war’s und mild – ich traf
Mann und Kahn auf warmem Sande,
Schläfrig beide, Hirt und Schaf: –
Schläfrig stiess der Kahn vom Lande.
Eine Stunde, leicht auch zwei,
Oder war’s ein Jahr? – da sanken
Plötzlich mir Sinn und Gedanken
In ein ew’ges Einerlei,
Und ein Abgrund ohne Schranken
That sich auf: – da war’s vorbei! –
Morgen kam: auf schwarzen Tiefen
Steht ein Kahn und ruht und ruht – –
Was geschah? so riefs, so riefen
Hundert bald – was gab es? Blut? –
Nichts geschah! Wir schliefen, schliefen
Alle – ach, so gut! so gut!

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Gedicht: Das nächtliche Geheimniss von Friedrich Nietzsche

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das nächtliche Geheimnis“ von Friedrich Nietzsche entführt den Leser in eine nächtliche Szenerie, die von Unruhe und einer tiefgreifenden Erfahrung geprägt ist. Der Sprecher, geplagt von Schlaflosigkeit und fehlendem inneren Frieden, flieht in die nächtliche Umgebung, um der beklemmenden Enge des eigenen Bewusstseins zu entkommen. Die Beschreibung der Szene, in der der Wind durch die Gassen weht und der Mond mild scheint, schafft eine Atmosphäre der Stille und des Mysteriums, die jedoch auch eine gewisse Bedrohung in sich birgt.

Der Kern des Gedichts liegt in der mysteriösen Begegnung des Sprechers mit einem Mann und einem Kahn am Strand. Die Szene des schläfrigen Hirten und seines Schafes, die in den Kahn steigen, vermittelt ein Gefühl der Entrückung und des Übergangs. Die anschließende Erfahrung, die der Sprecher beschreibt, ist von einer radikalen Entgrenzung gekennzeichnet. Sinn und Gedanken versinken in einem „ew’gen Einerlei“, ein Abgrund ohne Schranken tut sich auf. Diese Worte deuten auf einen Moment existenzieller Leere und Auflösung hin, eine Erfahrung des Nichts, die den Sprecher vorübergehend aus der Welt entreißt.

Die abschließenden Strophen sind von der Rückkehr in die Realität und der Konfrontation mit dem Geheimnis geprägt. Der am nächsten Morgen ruhende Kahn auf den „schwarzen Tiefen“ wird zum Symbol des Geschehenen. Die Frage nach dem, was geschah, hallt wider, doch die Antwort ist ernüchternd. Es ist nichts geschehen. Alle schliefen, und diese Schlaf ist mit einem emphatischen „so gut! so gut!“ verbunden. Diese Zeilen deuten darauf hin, dass die tiefgreifende Erfahrung des Sprechers, die von ihm als Auflösung des Selbst erlebt wurde, für die anderen, die schliefen, ohne Bedeutung oder Konsequenz war.

Nietzsches Gedicht ist somit eine Reflexion über die Erfahrung des Nichts und die Isolation des Individuums. Der Sprecher erlebt eine tiefe Grenzerfahrung, die ihn verändert, doch diese Erfahrung wird von der Welt nicht wahrgenommen. Das Gedicht wirft Fragen nach der Bedeutung von Erfahrungen auf, die außerhalb des kollektiven Bewusstseins liegen, und nach dem Wert individueller Erkenntnisse in einer Welt, die dem Schlaf verfallen zu sein scheint. Es ist ein düsteres, aber faszinierendes Gedicht, das die menschliche Existenz im Angesicht des Abgrunds beleuchtet.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.