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Das Joch am Leman

Von

„Die einen liegen tot mit ihren Wunden,
Die andern treiben wir daher gebunden!
Den Römeraar der Zwillingslegion,
Im Männerkampf, im Rossgestampf entrissen
Der eingegarnten Wölfin scharfen Bissen,
Schwingt Divico, der Berge Sohn!“

Weit blaut die Seeflut. Scheltend jagen Treiber
Am Ufer einen Haufen Menschenleiber,
Die nackte Schmach umjauchzt Triumphgesang,
Ein Jüngling kreist auf einem falben Pferde
Um die zu zwein gepaarte Römerherde
Die Krümmen des Gestads entlang.

Er schleudert auf den Aar mit stolzem Schreie,
Er schickt den Ruf empor zur Firnenreihe –
Die Grät und Wände blicken gross und bleich -:
„Hebt, Ahnen, euch vom Silbersitz, zu schauen
Die Pforte, die wir für den Räuber bauen
Der sich verstieg in euer Reich!

Wir bauen nicht mit Mörtel noch mit Steinen,
Zwei Speere pflanzt! Querüber bindet einen!
Zwei Römerköpfe drauf! Es ist getan!“ –
Das Joch umstehn verwogne Kriegsgesellen
Mit Auerhörnern und mit Bärenfellen
Und schauen sich das Bauwerk an.

Die Hörner dröhnen. Zu der blutgen Pforte
Strömt her das Volk aus jedem Tal und Orte,
Gross wundert sich am Joch die Kinderschar,
Ein Mädelreigen springt in heller Freude
Um das von Schande triefende Gebäude,
Den blühnden Veilchenkranz im Haar.

Der Manlierstirn verzogne Brauen grollen,
Des Claudierkopfs erhitzte Augen rollen –
Der Hirtenknabe geisselt wie ein Rind
Den Brutusenkel. Sich durchs Joch zu bücken,
Krümmt jetzt das erste Römerpaar den Rücken,
Und gellend lacht das Alpenkind.

Mit starren Zügen blickt, als ob er spotte,
Ein Felsenblock, der eigen ist dem Gotte,
Drauf hoch des Landes Priesterinnen stehn:
Ein hell Geschöpf in sonnenlichten Flechten
Und eine Drude mit geballter Rechten
Und rabenschwarzer Haare Wehn.

Die Dunkle höhnt: „Geht, Römer! Schneidet Stecken!
Mit Lumpen gürtet euch und Bettelsäcken!
Euch peitsch ein wildes Wetter durch die Schlucht!
Verflucht der Steg, darüber ihr gekommen,
Und wen ihr euch zum Führer habt genommen,
Er sei am ganzen Leib verflucht!“

Die Lichte fleht: „Du blitzest in den Lüften,
Umschwebst die Spitzen, hausest in den Klüften,
Behüte, Geist der Firn, uns lange noch!“
Die beiden singen starke Zauberlieder –
Ein Geier hangt im Blau und stösst danieder
Und setzt sich schreiend auf das Joch.

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Gedicht: Das Joch am Leman von Conrad Ferdinand Meyer

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Joch am Leman“ von Conrad Ferdinand Meyer erzählt von einer bemerkenswerten Episode des Widerstands und der Demütigung. Es zeigt die Eroberung römischer Legionäre durch die Helvetier und inszeniert eine Szene der Schmach und des Triumphs an den Ufern des Genfersees.

Die Interpretation beginnt mit der blutigen Realität des Krieges, der Toten und der Gefangenen. Der triumphierende Helvetier Divico, „der Berge Sohn“, befehligt die Szene und die Errichtung eines Jochs aus Speeren und römischen Köpfen. Dieses Joch symbolisiert die Demütigung der Römer und den Sieg der Helvetier. Die Szene wird von der „nackten Schmach“ der Römer begleitet, während die Helvetier ihren Triumphgesang anstimmen, was die emotionale Spannung zwischen Sieg und Niederlage verdeutlicht.

Die Szene wird durch die Reaktionen des Volkes und der Priesterinnen weiter differenziert. Während die Kinder das Geschehen mit Unschuld und Freude betrachten, zeigen die Römer unter dem Joch Scham und Verzweiflung. Die Priesterinnen symbolisieren die spirituelle Dimension des Geschehens. Die „Dunkle“ flucht und verdammt die Römer, während die „Lichte“ den Geist der Berge um Schutz bittet. Das Gedicht endet mit einem düsteren Vorzeichen: Ein Geier, Symbol des Todes, setzt sich auf das Joch.

Das Gedicht ist reich an Symbolen: Das Joch steht für die Demütigung der Römer und den Triumph der Freiheit; die Berge für die Unabhängigkeit und die Naturverbundenheit der Helvetier; der Geier für den nahenden Tod und das Ende des Konflikts. Die Sprache ist bildhaft und kraftvoll, mit Metaphern und Symbolen, die die Atmosphäre von Krieg, Triumph und Verzweiflung verstärken. Die Verwendung von Kontrasten, wie zwischen „Dunkler“ und „Lichter“ Priesterin, unterstreicht die Vielschichtigkeit der menschlichen Reaktionen auf Krieg und Demütigung.

Insgesamt ist „Das Joch am Leman“ ein Gedicht über Krieg, Ehre und Demütigung, das die historische Begebenheit des römischen Rückzugs am Genfersee in ein dramatisches und symbolträchtiges Bild umwandelt. Meyer zeichnet ein komplexes Bild der Ereignisse, indem er die verschiedenen Perspektiven und Emotionen der Beteiligten einfängt und die tieferen, menschlichen Implikationen des Konflikts beleuchtet.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.