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Das Armenhaus

Von

Hart am Saum einer rührigen Stadt
Steht ein viereckt Gebäude, massig und grau;
Von des Kirchspiels Armen wird es bewohnt,
Und sie selbst auch erhuben den finstern Bau;
Und sie drücken ans Eisengitter die Stirn,
Und sie schau´n durch die Stäbe mit trotziger Brau.

Hinter dem Bau liegt ein Rasenfleck,
Den ein Dornzaun scheidet vom Moorgefild;
Nebenan stiehlt ein Gäßchen zum Steinbruch sich,
Den der Regen vieler Jahre füllt;
Aber drin, aber drin! da, in all´ ihrer Qual,
Sitzt die Armut, und flucht, und murmelt wild!

Tritt ein! in den Höfen, hoch umwallt,
Messen grimme Männer den nackten Grund;
In die langen, öden Kammern tritt –
Mädchen genug, doch stumm jeder Mund!
Emsig näh´n sie, von früh bis zur Nacht,
Doch kein Lachen erschallt, kein Lied geht rund.

Keine Gemeinschaft im Armenhaus!
In des Armen Brust kein liebend Versteh´n!
Trüb seine herbe Vergangenheit!
Seine Zukunft – kaum wagt er´s hineinzuspäh´n:
Brot im Gefängnis, das steht ihm bevor,
Oder Hunger draußen im Windesweh´n!

Wo ist die Lachende, die vordem
Ihren Vater umspielt am ländlichen Hag?
Wo der Knab´, dessen Auge der Mutter Licht,
Auf des Haupt ihre segnende Rechte lag?
Getrennt, geschieden, (so will´s das Gesetz!)
Abgesperrt voneinander bei Nacht und bei Tag.

O, sie lehren in ihren Schulen viel –
Nur das eine, was die Natur lehrt, nicht!
Nur nicht, was das Kind an die Eltern knüpft:
Nur nicht opfernde Liebe, freudige Pflicht!
O, nichts Gutes lernt man, wo töricht und hart
Der Natur und dem Herzen den Stab man bricht!

Siebenzehn Sommer – und wo das Kind,
Die nicht aufwuchs an ihres Vaters Knie?
Zwanzig Herbste – und wo der Knab´,
Den ein Mutterwort unterwiesen nie?
Er, in Ketten, schafft an der Südsee Strand;
In den Gassen bei Nacht ihr Brot sucht sie

O Weisheit, o Macht, o Gesetz – blickt herab
Auf die schmachtende Armut von eurer Höh´!
O, trennt keine Herzen, die Gott verband,
Eins zu sein in Wohl und in Weh!
O ihr Ernsten, die ihr am Ruder steht –
Dachtet ihr dieses Ernstes je?

O Reichtum, komm und öffne die Hand!
O Mildigkeit, komm und schließe den Bund!
Gib dem Alter, der Jugend! der Liebe gib!
Segne, erfreue, mache gesund!
Doch zu spät! denn ich höre – und morgen schon!–
Der Rebellentrommel fordernden Ton
Schüttern den festen englischen Grund!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Das Armenhaus von Ferdinand Freiligrath

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Armenhaus“ von Ferdinand Freiligrath ist eine ergreifende Anklage an die soziale Ungerechtigkeit und die Härte des Lebens im 19. Jahrhundert. Es beschreibt eindrücklich die trostlose Realität der Armen, die in einem düsteren, „viereckigen Gebäude“ am Rande einer geschäftigen Stadt ihr Dasein fristen. Das Gedicht zeichnet ein Bild der Isolation, des Leids und der Hoffnungslosigkeit, das durch die detailreiche Darstellung des Armenhauses und seiner Bewohner vermittelt wird.

Freiligrath beginnt mit einer Beschreibung des Gebäudes selbst, das mit seinen „massigen und grauen“ Mauern und dem „finsteren Bau“ eine Atmosphäre von Tristesse und Gefangenschaft erzeugt. Die Bewohner, die „ans Eisengitter die Stirn drücken“, blicken mit „trotziger Brau“ in die Welt, gefangen in ihrer Armut. Das Gedicht geht dann ins Innere des Armenhauses, wo die Arbeitsbedingungen der Bewohner und die soziale Isolation hervorgehoben werden. Die „langen, öden Kammern“ und die „stumm[en] Münder“ der Mädchen, die emsig nähen, zeugen von der Monotonie und dem Mangel an Freude im Leben der Armen.

Der Dichter thematisiert auch die Zerrissenheit der Familien durch das Gesetz und die Armut. Die Frage nach dem Verbleib der Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden, unterstreicht die zerstörerische Wirkung der Armut auf zwischenmenschliche Beziehungen. Die Trennung von Familie wird als besonders schmerzhaft dargestellt, was durch die rhetorischen Fragen und die Sehnsucht nach der Vergangenheit verdeutlicht wird. Die Verse „Wo ist die Lachende, die vordem / Ihren Vater umspielt am ländlichen Hag?“ zeigen die Tragweite des Verlustes und die Entfremdung, die durch die Armut verursacht wird.

Im weiteren Verlauf des Gedichts kritisiert Freiligrath das Bildungssystem und die gesellschaftlichen Strukturen, die diese Ungerechtigkeit aufrechterhalten. Er beklagt, dass in den „Schulen“ nicht gelehrt wird, was die Natur lehrt: Liebe und Pflicht. Die fehlende Nächstenliebe und das Fehlen von Verständnis zwischen den Menschen werden als Hauptursache für das Elend der Armen angeprangert. Das Gedicht endet mit einem Appell an Reichtum, Milde und Liebe, doch dieser Ruf nach Veränderung kommt zu spät. Der „Rebellentrommel fordernde Ton“ deutet auf eine bevorstehende Revolution hin, was die Dringlichkeit der sozialen Veränderung betont. Freiligrath macht mit diesem Gedicht deutlich, dass die soziale Ungerechtigkeit eine tickende Zeitbombe ist.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.