Cimio
Ein roter Himmel von Bukarest nach Paris:
Dein Körper ist über und über voll schwarzer Augen.
Wir legen die Hände gegeneinander wie große Fächer, wenn wir uns lieben.
Dein Blinddarm ist krank, davon bist du sehr gelb.
Fliedersträuße wachsen aus deinen Ohren.
Dein ganzer Kopf ist voll Flieder. Aufgezäumt bist du mit Flieder.
Deine Augenwimpern zucken und schlagen gleich Schmetterlingsflügeln.
Deine Nase ist einer Klaviertaste sehr ähnlich.
Tanzende Hände hast du, Töchterchen.
Dein schmales Becken bewegt sich, wenn du an meiner Seite flatterst,
Sanftsüchtig gegen den Wind. Die großen glühenden Frauen liebst du.
In deinem Lächeln lallen Apachenlieder.
In Constanza heulte das Meer deinen Ohren.
Deine Finger stechen wie Dolche klirrende Glissandos in die Luft.
Deine Zunge ist roter Kopf einer Schlange, brennender Docht einer Lampe.
Auf deinem Schatten, Cimio, purzeln die kleinen Teufel
Wie schnalzende Fische, die man vom Bottich aufs Trockene schüttet.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Cimio“ von Hugo Ball ist eine surrealistische, fast dadaistische Auseinandersetzung mit einer weiblichen Figur, die von einer ungewöhnlichen und oftmals verstörenden Perspektive aus beschrieben wird. Es entbehrt einer klaren narrativen Struktur und setzt stattdessen auf eine Kette assoziativer Bilder, die ein Gefühl der Fremdheit und Desorientierung erzeugen. Die Verwendung von ungewöhnlichen Vergleichen und Metaphern, wie „schwarzer Augen“, „Fliedersträuße aus deinen Ohren“ und „Dolche klirrende Glissandos“, erzeugt eine bizarre und unkonventionelle Bildsprache, die weit über die Grenzen der traditionellen Poesie hinausgeht.
Die Beschreibung von Cimios Körper und ihrer Umgebung ist durchdrungen von einer Mischung aus Erotik und Krankhaftigkeit. Die Erwähnung von „kranker“ Organen, wie dem Blinddarm, kontrastiert mit der sinnlichen Beschreibung von „tanzenden Händen“ und einem sich „bewegenden“ Becken. Diese Gegenüberstellung suggeriert eine innere Zerrissenheit oder eine Dysfunktionalität, die sich in der äußeren Erscheinung widerspiegelt. Die Verwendung von Farben, insbesondere Rot und Gelb, trägt zur Schaffung einer intensiven, fast pathologischen Atmosphäre bei, in der die konventionellen Schönheitsideale durch eine düstere, expressionistische Vision ersetzt werden.
Die Fragmentierung des Gedichts, das Fehlen eines durchgängigen Erzählfadens und die überraschenden Wortkombinationen (z.B. „Apachenlieder“ im Lächeln) tragen zur Desorientierung des Lesers bei. Die Anspielungen auf ferne Orte wie Bukarest und Constanza verleihen dem Gedicht eine exotische Note, die die ohnehin schon ungewöhnlichen Bilder noch verstärkt. Diese kontextuelle Unbestimmtheit verstärkt den surrealistischen Charakter des Gedichts, das nicht versucht, eine klare Botschaft zu vermitteln, sondern vielmehr eine sinnliche Erfahrung durch die Anhäufung von Bildern und Assoziationen anstrebt.
Die abschließenden Zeilen, in denen „kleine Teufel“ auf Cimios Schatten „purzeln“, deuten auf eine gewisse Bedrohung oder zumindest auf eine dunkle Seite hin, die unter der Oberfläche der sinnlichen Beschreibung lauert. Die Metapher der „schnalzenden Fische“ verstärkt dieses Gefühl des Unheimlichen. Die Verbindung von Leben und Tod, Schönheit und Krankheit, Normalität und Absonderlichkeit ist ein zentrales Thema in Hugo Balls Gedicht, das durch die Verwendung einer unkonventionellen Sprache und Bildsprache erreicht wird. Insgesamt ist „Cimio“ ein vielschichtiges und provokantes Gedicht, das den Leser dazu einlädt, sich auf eine Reise in das Reich des Surrealen und Unbewussten zu begeben.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.