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Nadine

Von

„Nadine, komm, und misch in deinen Kuß
Den Zauberton, der Philomelens gleichet,
Indes die Nacht mit unbemerktem Fuß
Den jungen Tag in Florens Arm beschleichet.

Ein Augenblick wird schon zu teur versäumt;
Sie fliehn, sie fliehn mit Flügeln an den Füßen,
Die Stunden fliehn, die unter unsern Küssen
Ein Quincika am Quell der Lust verträumt.

Hat meinen letzten Hauch dein Mund einst aufgeküßt,
Was folget uns ins öde Reich der Schatten?
Ach! die Erinnerung was wir genossen hatten
Ist mehr vielleicht als dann uns übrig ist.“

So spricht Amynt, und drückt, indem er’s spricht,
An ihren Schwanenhals sein glühendes Gesicht,
Und fühlt, vom Arm der Liebe sanft umwunden,
Den ganzen Wert der eilenden Sekunden.

Mit Augen, wo die Traurigkeit
In süße Wollust schmilzt, verschämt, doch hingerissen
Von eurer Macht, Natur und Zärtlichkeit,
Entwindt sie lässig nur sich seinen heißen Küssen.

Die schlaue Nacht zieht jüngferlich bescheiden
Ein Wölkchen, wie vom dünnsten Silberflor,
Dem Seitenblick der spröden Luna vor;
Ein Rosenbusch wächst schnell um sie empor,
Und ungesehn umflattert sie ein Chor
Von
Liebesgöttern
und von
Freuden
.

Nur Einer aus der kleinen Schar
Ein junger
Scherz
, von dreisterem Geschlechte,
Den eine
Grazie
dem schönsten
Faun
gebar,
Setzt schalkhaft auf dem braunen Haar
An deiner Stirn, Nadine, sich zurechte.

Amynt wird ihn zuletzt gewahr,
Und will den losen Gaukler fangen;
Allein der Scherz, der leicht von Füßen war,
Entschlüpft, und flieht in eins der Grübchen ihrer Wangen.

Auch hier verfolget ihn Amynt.
Nun, denkt er, soll mir’s doch in ihren Lippen glücken!
Ja! wäre nicht sein Gegner schnell besinnt
Den kleinen Gott mit Küssen zu ersticken.
Er zappelt, wie ein junger Aal
Im feuchten Netz, und schlägt und sträubt sich mit den Flügeln,
Bis zwischen sanft erhabnen Hügeln
Von warmem Schnee ein dämmernd Rosental
Sich ihm entdeckt. – Er glitscht an einer Leiter
Von Bändern unvermerkt herab.
Umsonst! Der Mund, der keine Rast ihm gab,
Folgt ihm durch Berg und Tal, und treibt ihn immer weiter.

Wohin, o Venus, soll er fliehn?
Wo kann er zu entrinnen hoffen?
Wie soll er sich der Schmach, erhascht zu sein, entziehn?
Wo ist noch eine Zuflucht offen?

So wie ein Reh, vom frühen Horn erweckt,
Mit raschem Lauf, der kaum das Gras berühret,
Von Bergen flieht, dann steht, die Ohren reckt,
Dann schneller eilt, vom Nachhall fortgeschreckt,
Und sich zuletzt in einen Hain verlieret,
Wo krauser Büsche Nacht ihm seinen Feind versteckt:

So eilt der schlaue
Scherz
, ganz atemlos vor Schrecken,
So leis er kann in eine Freistatt sich,
Wo ihn sein Jäger sicherlich
Nicht suchen werde, zu verstecken.

Der Flüchtling glaubt, in Paphos tiefstem Hain,
Wo, unentdeckt sogar bei Sonnenschein,
Sich Amor oft an Spröden schon gerochen,
Glaubt in Cytherens Heiligtum,
In Dädals Labyrinth, ja im Elysium
Nicht sicherer zu sein als wo er sich verkrochen.

Allein der Liebesgötter Schar
Die, Bienen gleich, doch unsichtbar,
In Trauben an Nadinens Wangen,
An ihrem Rosenmund, an ihrem Busen hangen,
Bemerkten bald die reizende Gefahr,
Und schrien laut – als es zu späte war:
„Ach! Brüderchen, du bist gefangen!“

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Nadine von Christoph Martin Wieland

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Nadine“ von Christoph Martin Wieland ist ein heiter-erotisches Spiel aus dem Geist des Rokoko, das mit mythologischen Motiven, feiner Ironie und sinnlicher Bildsprache einen Liebesmoment zwischen Amynt und Nadine schildert. Es verbindet klassische Anspielungen mit leichtherziger Fantasie und einem raffinierten Wechselspiel zwischen Menschlichem und Göttlichem, Realität und Fiktion.

Zu Beginn wird die Situation poetisch verklärt: Amynt ruft seine Geliebte Nadine zur Liebe in der Dämmerung zwischen Nacht und Tag. In gefühlsbetonten Versen spricht er von der Vergänglichkeit der Zeit und dem Wert des gemeinsamen Augenblicks – ein typisches Motiv der erotischen Dichtung des 18. Jahrhunderts, das an das carpe-diem-Thema erinnert. Besonders betont wird die Kostbarkeit jedes Kusses, jedes Augenblicks körperlicher Nähe, als sei darin das einzig Bleibende gegen den Tod.

Der zweite Teil des Gedichts verwandelt die Liebesszene in ein allegorisches Spiel: Die Nacht, zart und scheu, verhüllt die Liebenden, während ein „Chor von Liebesgöttern und Freuden“ sie umflattert. Diese Personifikationen bringen Leichtigkeit und Humor ins Gedicht – besonders die Figur des „Scherzes“, ein kleiner Gott, der sich neckisch in Nadines Wange versteckt. Amynts Versuch, ihn zu fangen, wird zu einer metaphorischen Jagd, die zugleich eine Beschreibung zärtlicher Annäherung ist.

Die Flucht des Scherzes durch „Berg und Tal“ – ein poetisch verhülltes Bild für Nadines Körper – lässt das Gedicht ins Spielerisch-Sinnliche kippen. Die Sprache bleibt elegant und anspielungsreich, aber auch deutlich erotisch. Die mythologischen Bezüge (Venus, Amor, Paphos, Dädalus) verankern das Gedicht in einer Welt der antiken Liebeskunst, während die komisch-dramatische Flucht des Scherzes die erotische Spannung mit Leichtigkeit auflädt.

Wieland gelingt in „Nadine“ eine geschickte Balance zwischen Sinnlichkeit und Ironie, zwischen klassischer Bildung und neckischer Erotik. Die Liebe erscheint hier nicht als tragisches Schicksal, sondern als verspielter Moment voll Lust und Witz – ein typisches Ideal der Aufklärungsepoche in ihrer genussfreudigeren, höfisch-galanten Ausprägung. Die letzte Zeile – „Ach! Brüderchen, du bist gefangen!“ – bringt dieses Spiel auf den Punkt: Liebe ist ein süßer Überfall, bei dem selbst die Götter nicht entkommen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.