Camoëns
Camoëns, der Musen Liebling,
Lag erkrankt im Hospitale.
In derselben armen Kammer
Lag ein Schüler aus Coimbra,
Ihm des Tages Stunden kürzend
Mit unendlichem Geplauder.
„Edler Herr und grosser Dichter
Was sie melden, ist es Wahrheit
Dass gescheitert eines Tages
Am Gestad von Coromandel
Sei das undankbare Fahrzeug,
Das beehrt war, Euch zu tragen?
Dass Ihr, kämpfend in der Brandung,
Mit der Rechten kühn gerudert,
Doch in ausgestreckter Linken,
Unerreicht vom Wellenwurfe,
Hieltet Eures Liedes Handschrift?
Schwer wird solches mir zu glauben.
Herr, auch mir, wann ich verliebt bin,
Sind Apollos Schwestern günstig;
Aber ging′ es mir ans Leben,
Flattern meine schönsten Verse
Liess ich wahrlich mit dem Winde,
Brauchte meine beiden Arme!“
Antwort gab der Dichter lächelnd:
„Solches tat ich, Freund, in Wahrheit,
Ringend auf dem Meer des Lebens!
Wider Bosheit, Neid, Verleumdung
Kämpft ich um des Tages Notdurft
Mit dem einen dieser Arme.
Mit dem andern dieser Arme
Hielt ich über Tod und Abgrund
In des Sonnengottes Strahlen
Mein Gedicht, die Lusiaden,
Bis sie wurden, was sie bleiben.“
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Camoëns“ von Conrad Ferdinand Meyer entwirft ein Bild von dem berühmten portugiesischen Dichter Luís de Camões in seiner Krankheit, der im Hospitale liegt. Der Text zeichnet sich durch die Gegenüberstellung des Dichters Camões mit einem jungen Schüler aus Coimbra aus, die einen Kontrast zwischen der Erfahrung und dem Ideal des Dichtens bildet. Der Schüler zweifelt an der Echtheit der Legende, die besagt, dass Camões seine epische Dichtung, die „Lusiaden“, während eines Schiffbruchs rettete.
Die zentrale Frage des Schülers dreht sich um die Prioritäten: Würde er, im Angesicht des Todes, seine Gedichte oder sein Leben retten? Seine Worte spiegeln eine eher oberflächliche Auffassung vom Dasein eines Dichters wider. Er vergleicht seine eigenen Liebesgedichte mit denen des Camões und zieht daraus den Schluss, dass er, im Gegensatz zum berühmten Dichter, seine Verse im Todesfall nicht retten würde. Diese Aussage unterstreicht das Fehlen des tiefen Verständnisses für das Wesen der Dichtkunst und die Hingabe des großen Dichters.
Die Antwort von Camões offenbart die eigentliche Bedeutung des Gedichts. Mit einem Lächeln bestätigt er die Legende und erklärt, dass er, ähnlich wie auf dem Meer, im Leben gegen „Bosheit, Neid, Verleumdung“ mit einem Arm kämpfte, während er mit dem anderen seine Verse, die „Lusiaden“, schützte. Diese Metapher verdeutlicht die Lebensaufgabe des Dichters, der sich sowohl den alltäglichen Kämpfen des Lebens stellen muss als auch seine Kunst vor den Widrigkeiten der Welt bewahren muss.
Das Gedicht ist somit eine Würdigung der dichterischen Leistung und der Hingabe an die Kunst. Meyer vermittelt die Idee, dass wahre Dichtkunst aus dem Kampf mit den Stürmen des Lebens erwächst und dass die Erhaltung der Kunst über den eigenen Interessen stehen kann. Die „Lusiaden“ stehen hier für die Ewigkeit, für das, was bleibt, wenn der Dichter längst vergessen ist. Die einfache Struktur des Gedichts, mit den Fragen und Antworten, verdeutlicht die tiefe philosophische Frage nach dem Wert und der Bedeutung von Kunst und Leben.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.