Betörung
Nun bist du, Seele, wieder deinem Traum
Und deiner Sehnsucht selig hingegeben.
In holdem Feuer glühend fühlst du kaum,
Daß Schatten alle Bilder sind, die um dich leben.
Denn nächtelang war deine Kammer leer.
Nun grüßen dich, wie über Nacht die Zeichen
Des jungen Frühlings durch die Fenster her,
Die neuen Schauer, die durch deine Seele streichen.
Und weißt doch: niemals wird Erfüllung sein
Den Schwachen, die ihr Blut dem Traum verpfänden,
Und höhnend schlägt das Schicksal Krug und Wein
Den ewig Dürstenden aus hochgehobnen Händen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Betörung“ von Ernst Stadler beschreibt einen Zustand der Hingabe an Träume und Sehnsüchte, der jedoch von der Erkenntnis der Unmöglichkeit der Erfüllung überschattet wird. Die Seele wird in den ersten beiden Strophen als im Bann ihrer inneren Welt dargestellt, die sich durch eine überwältigende Freude und eine intensive Sinneswahrnehmung auszeichnet. Dabei werden die Realitäten ausgeblendet, dargestellt durch die „Schatten“, die die Bilder des Lebens darstellen. Diese Träumerei wird als eine Wiederkehr des Glücks interpretiert, nachdem die „Kammer“ der Seele zuvor lange leer war. Die Anspielung auf den Frühling deutet auf einen Neubeginn und eine Zeit der Hoffnung, die jedoch in der dritten Strophe eine Wendung erfährt.
Der Kern des Gedichts liegt in der dritten Strophe, die eine unheilvolle Warnung ausspricht. Stadler stellt die These auf, dass die „Schwachen“, die ihre Seele, das „Blut“, den Träumen „verpfänden“, niemals Erfüllung finden werden. Dies ist eine drastische und pessimistische Feststellung, die die Illusion des Glücks entlarvt. Der Bezug auf „Schicksal“ und die „hochgehobenen Händen“ suggeriert eine übermächtige, unerbittliche Kraft, die den Sehnsüchtigen das ersehnte Ziel vorenthält. Das Schicksal wird hier als Hohn dargestellt, das den „Krug und Wein“, Symbole der Erfüllung, den Durstenden entreißt.
Die Verwendung von Metaphern und Bildern verstärkt die emotionale Wirkung des Gedichts. Das „holdes Feuer“ der Seele steht für die Leidenschaft und die Intensität der Sehnsucht, während die „Schatten“ die trügerische Natur der Realität repräsentieren. Die Anspielung auf den Frühling deutet auf eine Erneuerung und eine Hoffnung hin, die jedoch durch die Erkenntnis der Unmöglichkeit der Erfüllung getrübt wird. Das Bild des Schicksals, das den „Krug und Wein“ aus den Händen reißt, ist eine eindringliche Darstellung der Verzweiflung und des Scheiterns.
In der Gesamtheit formt das Gedicht eine Reflexion über die menschliche Natur, die Zerrissenheit zwischen Träumen und Realität und die Sehnsucht nach Erfüllung, die jedoch von der Erkenntnis des Scheiterns überschattet wird. Es handelt von der Selbsttäuschung und dem Streben nach Glück, die trotz aller Anstrengungen unerreichbar bleiben. Stadlers „Betörung“ ist somit ein düsteres, aber zugleich poetisches Zeugnis menschlicher Erfahrung, das die Ambivalenz zwischen der Hingabe an Träume und der Erkenntnis ihrer Unerreichbarkeit thematisiert.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.