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Bestimmung

Von

Ein Felsen starrt zum Himmel wild und nackt,
zerfurcht, zerrissen, fahl, wie schartig Eisen,
an dem der Sommer sich verbluten muß.

Kaum daß in seinen schmalen Ritzen sich
der Schnee anklammern kann mit steifem Trotz,
der weiße, kalte, stille, tote Schnee,
das Leichentuch, das herb die Ewigkeit
um ihres stummen Sohnes Leib geschlungen.

O diese Ewigkeit mit ihrem Zwang
ins Große, ins Empfindungslose, Starre,
darin in purpurnem Geheimnisdunkel
die Gottheit brütet!

Reglos stand der Wächter
der Erde da und sah in grimmen Schweigen
die eigne kalte Unvergänglichkeit
indes zu seinen Füßen bunt die Zeit
in holdem Wechselspiele froh dahinzog.
Er sah das kleine Blühn des Lenzes, alle
die goldnen Schmetterlinge, Menschen, Blumen,
die ihres Mais sich freuten, sah die Quellen,
die munter sprangen; und in seine Stille
drang jubelnder Gesang der Wälder, drang
des Meeres majestätischer Choral,
der Winde leises Kichern … Und der alte
ergraute Sohn der dunklen Zwingerin,
der finstern Ewigkeit, erglühte heiß
vor Sehnsucht nach dem bunten Blumenleben,
vor Sehnsucht nach des Lenzes weicher Thorheit,
den goldnen Vögeln, der Musik, den Menschen,
den schönen, lichten Menschen.
»Kommt zu mir!«
verkündete die rosenrote Glorie,
die von der Sonne er sich lieh, zu locken
die Warmersehnten. Doch kein Einziger
vermochte auf zu ihm.
Er war zu hoch
zu unerreichbar für die Menschenkinder.

»So will ich denn mich unter eure Fersen
hinbreiten, daß ihr wandelnd euern Fuß
auf meinen Nacken setzt«.

Und donnernd, daß
die Erde bebte, stürzte er zusammen …

Da aber fuhr im Wirbelsturm herbei
Jehova, und er blies mit zornigen Nüstern
in dieses Phönix Asche.

Himmelan
erheben Wolken aufgescheuchten Schuttes
sich brausend, daß die Sonne sich verfinstert,
und hinter ihnen treibt mit Flammenruten
der eifersüchtige Gott.

»Fort aus dem Thal,
hinauf, hinauf!«
Auf gelben weiten Flügeln
hinrasen die Atome des Gestürzten
den Sternen wieder zu …

»O Mai! du sanfter,
glückseliger Mai dort unten!« …

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Gedicht: Bestimmung von Maria Janitschek

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Bestimmung“ von Maria Janitschek ist eine kraftvolle und vielschichtige Auseinandersetzung mit Themen wie Ewigkeit, Vergänglichkeit, Sehnsucht und dem göttlichen Willen. Es beginnt mit der Beschreibung eines einsamen Felsens, der als Metapher für die Ewigkeit selbst steht. Der Felsen, kalt und unerbittlich, blickt auf die Welt herab, die von den Zyklen der Zeit geprägt ist. Er ist Zeuge des „bunten Wechselspiels“ des Lebens, der Freude, der Schönheit und der Vergänglichkeit, die ihn mit Sehnsucht erfüllen.

Die Sehnsucht des Felsens nach dem Leben, nach den „Menschenkindern“ und der „weichen Thorheit“ des Frühlings, gipfelt in dem Wunsch, sich der Welt anzunähern. Doch er ist zu unerreichbar, zu sehr dem Zwang der Ewigkeit verhaftet, um Teil des irdischen Lebens zu werden. Die darauffolgende gewaltsame Zerstörung des Felsens, sein Sturz, ist ein Akt des Widerstands gegen seine eigene Unbeweglichkeit und das Eingeständnis seiner Unfähigkeit zur Teilhabe. Dies ist ein dramatischer Moment, der die ganze Tragik seiner Situation verdeutlicht.

Die Reaktion Jehovas, des zornigen Gottes, auf den Sturz des Felsens, zeigt die zerstörerische Kraft des göttlichen Zorns, aber auch die Möglichkeit der Transzendenz. Aus der Asche des Felsens, der Zerstörung, erhebt sich etwas Neues. Die Atome des Gestürzten steigen „den Sternen wieder zu“, was auf eine spirituelle Wiedergeburt oder Transformation hindeutet. Die Sehnsucht nach dem „sanften, glückseligen Mai“ bleibt jedoch bestehen, ein Hinweis auf die Unmöglichkeit, die irdische Welt vollständig zu verlassen.

Janitscheks Gedicht ist geprägt von einer starken Symbolik. Der Felsen repräsentiert die starre, unbewegliche Ewigkeit, die sich nach dem bunten Leben sehnt, aber nicht in der Lage ist, sich zu verändern oder Teil davon zu werden. Die Darstellung Jehovas als zornigen Gott, der letztendlich die Zerstörung und Erneuerung bewirkt, spiegelt die dualistische Natur des Göttlichen wider. Die Verwendung von Bildern wie Schnee, „purpurnem Geheimnisdunkel“, „goldnen Schmetterlingen“ und dem „donnernden“ Sturz unterstreicht die Kontraste zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit, Kälte und Wärme, Stille und Leben. Das Gedicht ist ein Aufruf zur Betrachtung des Lebens, der Liebe und der Suche nach Erfüllung, trotz der unerbittlichen Macht der Ewigkeit.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.