Berliner Ballade
Sie hing wie eine Latte
Vom Schranke steif und stumm.
Am Morgen sah′s ihr Gatte,
Lief nach dem Polizeipräsidium.
»Meine Frau«, so schrie er, »ist verschieden…«
Doch der Polizeiwachtmeister Schmidt
Rollte blutig seine Augen:
»Wie denn, ha′m Sie den Jeburtsschein mit?«
Dieses hatte er mitnichten,
Und er setzte sich in Trab,
Spät entsann er sich der ehelichen Pflichten,
– schnitt sie ab.
Und er legt den Strick an seine Kehle,
Vor dem Spiegel, peinlich und honett.
Nimmt noch einen Schluck, befiehlt Gott seine Seele
– schwapp, schon baumelt er am Ehebett.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Berliner Ballade“ von Klabund ist eine bitterböse Satire auf die bürokratische Kälte und die Sinnlosigkeit im kleinbürgerlichen Leben. Es beginnt mit dem schockierenden Bild einer Frau, die tot an einem Strick hängt, und entlarvt sofort die Absurdität der Reaktion ihres Ehemanns und der Behörden. Die steife, stumme Frau wird in den ersten beiden Versen als „Latte“ beschrieben, was ihre Entmenschlichung und die emotionslose Atmosphäre des Haushalts andeutet. Der Gatte, anstatt zu trauern, rennt zum Polizeipräsidium – getrieben von Pflichtbewusstsein oder Gewohnheit, nicht von Liebe.
Die Ironie spitzt sich im Gespräch mit dem Polizeiwachtmeister Schmidt zu. Dieser ist mehr an den Formalien als an dem menschlichen Leid interessiert. Die Frage nach der Geburtsurkunde offenbart die bürokratische Engstirnigkeit, die das persönliche Schicksal in ein rein administratives Problem verwandelt. Der Mann, der anfangs von Trauer getrieben scheint, wird nun als ein Gefangener der Routine dargestellt. Er vergisst seine ehelichen Pflichten, da er keinen Geburtschein dabei hat, und widmet sich erst am Ende seiner eigenen Beendigung.
Die letzte Strophe ist eine überraschende Wendung, da der Ehemann sich selbst das Leben nimmt. Diese letzte Handlung, die vorher als eine mögliche Reaktion auf den Tod der Frau angedeutet wird, führt das Gedicht zu einem absurden und zynischen Höhepunkt. Das Bild des Mannes, der sich „peinlich und honett“ vorbereitet, unterstreicht die Ironie. Es ist ein Akt der Verzweiflung, aber auch eine Parodie auf die bürgerliche Moral und das Selbstverständnis der Gesellschaft. Der abschließende „schwapp“, wenn er sich erhängt, ist ein abrupter Bruch mit dem vorherigen, fast komischen Ton, und stellt die Leere und Sinnlosigkeit des Ganzen dar.
Klabund nutzt eine einfache, fast prosaische Sprache und derbe Bilder, um die Leere und das Unglück des kleinbürgerlichen Daseins aufzuzeigen. Die Balladenform, mit ihren Reimen und dem Erzählfluss, wird hier ironisch eingesetzt, um die tragische Geschichte mit schwarzem Humor zu erzählen. Das Gedicht ist eine schonungslose Kritik an der Bürokratie, der emotionalen Verarmung und der Scheinheiligkeit der Gesellschaft, die letztlich in einem doppelten Selbstmord gipfelt.
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Lizenz und Verwendung
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