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Bergschloß

Von

Da droben auf jenem Berge,
Da steht ein altes Schloß,
Wo hinter Toren und Türen
Sonst lauerten Ritter und Roß.

Verbrannt sind Türen und Tore
Und überall ist es so still;
Das alte, verfallne Gemäuer
Durchklettr′ ich, wie ich nur will.

Hierneben lag ein Keller,
So voll von köstlichem Wein;
Nun steiget nicht mehr mit Krügen
Die Kellnerin heiter hinein.

Sie setzt den Gästen im Saale
Nicht mehr die Becher umher,
Sie füllt zum heiligen Mahle
Dem Pfaffen das Fläschchen nicht mehr.

Sie reicht dem lüsternen Knappen
Nicht mehr auf dem Gange den Trank,
Und nimmt für flüchtige Gabe
Nicht mehr den flüchtigen Dank.

Denn alle Balken und Decken,
Sie sind schon lange verbrannt,
Und Trepp′ und Gang und Kapelle
In Schutt und Trümmer verwandt.

Doch als mit Zither und Flasche
Nach diesen felsigen Höh′n
Ich an dem heitersten Tage
Mein Liebchen steigen geseh′n,

Da drängte sich frohes Behagen
Hervor aus verödeter Ruh′,
Da ging′s wie in alten Tagen
Recht feierlich wieder zu;

Als wären für stattliche Gäste
Die weitesten Räume bereit,
Als käm′ ein Pärchen gegangen
Aus jener tüchtigen Zeit;

Als stünd′ in seiner Kapelle
Der würdige Pfaffe schon da,
Und fragte: „Wollt ihr einander?“
Wir aber lächelten: „Ja!“

Und tief bewegten Gesänge
Des Herzens innigsten Grund;
Es zeugte statt der Menge
Der Echo schallender Mund.

Und als sich gegen den Abend
Im stillen alles verlor,
Da blickte die glühende Sonne
Zum schroffen Gipfel empor.

Und Knapp′ und Kellnerin glänzen
Als Herren weit und breit;
Sie nimmt sich zum Kredenzen
Und er zum Danke sich Zeit.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Bergschloß von Johann Wolfgang von Goethe

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Bergschloß“ von Johann Wolfgang von Goethe beschreibt die melancholische Kontemplation eines zerfallenen Schlosses, das durch die Gegenwart der Geliebten jedoch wieder zum Leben erwacht. Die erste Hälfte des Gedichts schildert die Ruinen des einst stolzen Bauwerks, wobei die abgewirtschafteten Türen, Keller und Säle als Metaphern für Verfall und Vergänglichkeit dienen. Die detailreichen Beschreibungen der zerstörten Elemente (verbrannte Türen, leerer Keller, zerstörte Kapelle) erzeugen ein Gefühl der Leere und des Verlusts. Der einst lebhafte Ort ist verlassen und still geworden.

Im Gegensatz dazu wird in der zweiten Hälfte des Gedichts eine bemerkenswerte Verwandlung vollzogen. Die Ankunft der Geliebten auf dem Berg erweckt das verlassene Schloss zu neuem Leben. Goethes lyrisches Ich erlebt eine innere Wiedergeburt, die sich in einer fast magischen Verwandlung des alten Gemäuers manifestiert. Die einst toten Räume werden plötzlich wieder mit Leben gefüllt, als ob die Zeit zurückgedreht würde. Die beschriebenen Szenen – ein festliches Mahl, eine Hochzeit in der Kapelle – sind Imaginationen, die durch die Liebe des lyrischen Ichs ausgelöst werden.

Die Verwendung von rhetorischen Fragen und direkten Zitaten im Gedicht verdeutlicht die Intensität der Gefühle und die subjektive Erfahrung des lyrischen Ichs. Die Natur, insbesondere die Sonne, spielt eine wichtige Rolle in diesem Wiederauferstehungsprozess. Die Sonne blickt am Ende „zum schroffen Gipfel empor“, was das Ende des Verfalls markiert und eine Art Erlösung symbolisiert. Die im letzten Vers erwähnten, transformierten Diener, die nun „als Herren weit und breit glänzen“, unterstreichen das Thema der Erhebung und der erneuerten Freude.

Goethes Gedicht ist eine Allegorie auf die transformative Kraft der Liebe. Die Liebe vermag es, aus Ruinen eine neue Welt zu erschaffen, die Vergangenheit in der Gegenwart lebendig werden zu lassen und dem tristen Verfall die Freude und das Glück entgegenzusetzen. Die Schönheit der Geliebten, in Verbindung mit der Erinnerung an die Vergangenheit, ermöglicht eine Wiedergeburt und einen erneuten Sinn für das Leben. Das Gedicht ist somit eine Feier der Liebe, die sogar in den trostlosesten Umgebungen Hoffnung und Erneuerung birgt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.