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Aus dem Talmud

Von

Das Werk der Schöpfung war vollbracht,
Es lobte der Gestirne Pracht
Den Herrn mit lichten Flammenzungen.
Gesondert waren Fluth und Land,
Der blaue Aether ausgespannt,
Der Stoff von Gottes Hauch durchdrungen.

Die Vögel schwirrten in der Höh′,
Von Fischen wimmelte die See,
Der Wald von Thieren aller Arten,
Und, selber noch ein Räthsel sich,
Im halben Traume noch, durchstrich
Der erste Mensch den Edensgarten.

Die Kreaturen sonder Zahl,
Wie fühlten sie den Lebensstral
So warm sich in ihr Blut ergießen!
Ein Wonnemeer schien ihrem Blick
Die Welt! das Dasein schon ein Glück,
Und jeder Pulsschlag froh Genießen!

Und nun begann der Herr die Frist,
So jedem zugemessen ist,
Den Wesen allen zu bestimmen,
Feststellend, wann in ew′ger Nacht
Der Funke, den er jetzt entfacht,
Erlöschen solle und verglimmen.

Nach Thieren viel und mancherlei
Kam auch der Esel an die Reih′;
Ihm wurden dreißig Jahr beschieden.
Als so sein Urtheil war gefällt,
Da bat er: »Sag, o Herr der Welt!
Welch Loos harrt meiner wohl hienieden?«

»Dein Loos,« erklang des Schöpfers Wort,
»Ist Müh′ und Arbeit fort und fort,
Der schmalen Kost nicht zu vergessen!«
Voll Schrecken rief das arme Thier:
»Für solch ein Dasein wären mir
Der Jahre dreißig zugemessen?«

»Ist nicht die Hälfte schon genug?
Nicht schon zu viel, dem der sie trug?
Erlasse mir der andern Wehe!
O kürz′ ihn ab, den schweren Bann!«
Erbarmend sah der Herr ihn an,
Und nickte lächelnd: »Es geschehe!«

Jetzt nahm den Hund der Schöpfer vor.
»Die Frist, die Jenem ich erkor,
Dir soll sie ungeschmälert werden!«
Allein, gewitzigt sprach der Hund:
»O Herr! vor Allem thu′ mir kund,
Was wird mein Schicksal sein auf Erden?«

»»In Winterfrost und Sommerbrand
Zu liegen an der Kette Band,
Als Wächter bei des Menschen Schätzen.««
Da jammerte der Hund und schrie:
»Zu lang die Frist! O wolle sie
Herab doch auf die Hälfte setzen!«

Und wieder lächelte der Herr
Gewährung mild; dann wandte er
Sich, also sprechend zu dem Affen:
»Dir wend′ ich dreißig Jahre zu.«
Der Affe bat: »»Erst lasse du
Mich wissen, wozu ich erschaffen!««

»Das Loos, das dir zu eigen fiel,
Es ist, durch deiner Launen Spiel
Den Andern zum Gespött zu dienen.«
»»Ein Fangball fremden Uebermuths
Durch dreißig Jahr′? Die Hälfte thut′s!««
Der Affe sprach′s mit Flehensmienen.

Auch ihm ward ein geneigtes Ohr.
Jetzt aber trat der Mensch hervor,
Daß ihm sein Spruch und Urtheil werde.
Sie lauteten auf dreißig Jahr′.
»»O Herr! so bat er, sag′ mir klar,
Was meiner harrt auf dieser Erde!««

»Ihr Herr und König wirst du sein!
Aus der Geschöpfe dunklen Reih′n
Empor in stolzer Hoheit ragen!
Was kreucht und fleucht, was geht und schwimmt,
Zu deinem Dienst ist es bestimmt,
Und wehrlos wird dein Joch es tragen.«

»»Mein wäre solch ein herrlich Loos?!
Doch kurze dreißig Jahre bloß
Um durchzukosten seine Freuden?
Ich sollte von des Daseins Glanz,
Nur mir beschieden voll und ganz,
Ach! schon nach drei Jahrzehnden scheiden?««

»»Der du der Milde Urquell bist,
Verläng′re meines Lebens Frist!
Brich mir nichts ab von deinem Segen!
Was kostet dir′s, die Jahre, so
Du Jenen abnahmst, spendensfroh,
Den meinen gnädig zuzulegen?««

»Du weißt nicht, was du dir erflehst!
Allein, wenn du darauf bestehst,
Will ich den Wunsch dir nicht versagen.
Die Jahre, welche diese hier
Verschmäht, wohlan! sie seien dir
Zu deinem Antheil zugeschlagen.« –

Was sich an jenem Tag erfüllt,
Ach! allzu deutlich nur enthüllt
Es uns das menschliche Verhängniß!
Dem Jugendglück, der Jugendlust
Folgt Plage, folgt der Sorgen Wust,
Zuletzt der Greisenzeit Bedrängniß.

Nur bis zu dreißig Jahren ist
Der Mensch er selbst; dann kommt die Frist,
Die er gewann, sich zum Verderben!
Zum Lastthier wird er, Tag und Nacht
In harter Frohne, nur bedacht
Auf Sammeln, Sparen und Erwerben.

Und wenn in solcher bittern Haft
Des Goldes er genug errafft,
Selbst dann noch kommt er nicht zur Ruhe.
Stets Arglist witternd und Verrath
Bewacht als Hund er früh und spat
Den Schatz in seiner Eisentruhe.

Das Alter naht, mit ihm der Gram.
Der Sinn wird stumpf, der Wille lahm,
Dem Murrkopf will nichts mehr gefallen.
Die Neuzeit ärgert und verwirrt
Ihn nur, und gleich dem Affen wird
Ein Gegenstand des Spott′s er Allen. –

Das ist des Lebens trüber Gang!
Verdient ers, daß der Mensch so bang
Der Jahre volles Maß ersehne?
Sein Unheil ist′s, was er erfleht!
O glücklich, wer von hinnen geht
In seines Daseins voller Schöne!

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Gedicht: Aus dem Talmud von Betty Paoli

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Aus dem Talmud“ von Betty Paoli ist eine poetische Interpretation einer talmudischen Erzählung, die die menschliche Natur und das Streben nach einem langen Leben hinterfragt. Das Gedicht beginnt mit der Schöpfung und der Erschaffung der Welt und ihrer Bewohner, wobei jede Kreatur eine bestimmte Lebensspanne zugemessen bekommt. Die Tiere erhalten ihre Lebensdauer zugewiesen und bitten den Schöpfer, diese zu verkürzen, da sie die ihnen zugedachte Lebensweise als zu beschwerlich empfinden.

Der Kern des Gedichts liegt in der Interaktion zwischen dem Schöpfer und dem Menschen. Während Tiere, wie der Esel, der Hund und der Affe, ihre zugedachte Lebensdauer verkürzen möchten, weil sie das ihnen zugedachte Leben ablehnen, bittet der Mensch um ein längeres Leben und erbt die von den Tieren verschmähten Lebensjahre. Der Schöpfer gewährt ihm diesen Wunsch, doch die Konsequenzen sind verheerend. Der Mensch durchläuft im Laufe seines verlängerten Lebens verschiedene Phasen, die von jugendlichem Glück über mühsame Arbeit bis hin zu Altersbeschwerden und schließlich zum Tod führen.

Paoli verwendet in ihrem Gedicht eine einfache, aber eindringliche Sprache, um die moralische Botschaft zu vermitteln. Die Struktur des Gedichts ist durchgehend linear, wobei jede Strophe einen neuen Aspekt des Lebensweges beleuchtet. Die reimende Form und der fließende Rhythmus tragen dazu bei, dass das Gedicht leicht zugänglich ist und die Leser*innen in die Erzählung eintauchen können. Die Verwendung von direkter Rede und die dialogartige Struktur verstärken die Dramatik und machen die Auseinandersetzung mit den Figuren und ihren Wünschen lebendig.

Die zentrale Aussage des Gedichts ist die Ironie des menschlichen Strebens nach einem langen Leben. Während der Mensch sich ein langes Leben wünscht und die Lebensspanne der Tiere erbt, wird er durch diese verlängerte Zeit mit den unschönen Aspekten des Lebens konfrontiert: Arbeit, Sorgen, Altersbeschwerden und schließlich ein stumpfes, unglückliches Greisenalter. Das Gedicht kritisiert somit das menschliche Streben nach mehr und deutet an, dass ein kürzeres, erfülltes Leben möglicherweise erstrebenswerter ist als ein langes, von Leid geprägtes.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Paolis „Aus dem Talmud“ eine tiefgründige Reflexion über die menschliche Existenz, die Vergänglichkeit und das Streben nach Glück darstellt. Durch die Verwendung einer einfachen Sprache und einer fesselnden Erzählweise gelingt es der Autorin, die Leser*innen dazu anzuregen, über die Natur des Lebens, die Konsequenzen des menschlichen Wünschens und die Bedeutung der Lebensfreude nachzudenken. Die moralische Lehre des Gedichts ist eine Mahnung, die eigenen Wünsche kritisch zu hinterfragen und das gegenwärtige Leben in vollen Zügen zu genießen, anstatt nach einer endlosen Zeit zu streben, die möglicherweise nur Leid mit sich bringt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.