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Archaischer Torso Apollos

Von

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

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Gedicht: Archaischer Torso Apollos von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ von Rainer Maria Rilke ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der Kunst, der menschlichen Wahrnehmung und der Notwendigkeit der Veränderung. Es beschreibt die beeindruckende Wirkung eines fragmentierten Kunstwerks, eines Torso, und leitet daraus eine Aufforderung zur Selbstreflexion und Lebensveränderung ab. Der Fokus liegt dabei nicht auf dem Fehlenden, sondern auf der kraftvollen Präsenz des verbliebenen Teils der Skulptur.

Rilke beginnt mit der Feststellung, dass die Betrachter das vollständige Haupt des Apollos nicht kannten. Dies deutet auf die Vergänglichkeit und Unvollkommenheit des menschlichen Wissens hin. Trotz des Fehlens des Kopfes, der traditionell als Sitz der Intelligenz und des Ausdrucks gilt, glüht der Torso „wie ein Kandelaber“. Diese Metapher visualisiert die Strahlkraft und das Leuchten, das von der Skulptur ausgeht. Das „Schauen“, das im Kopf angesiedelt gewesen sein mag, ist nicht verschwunden, sondern „zurückgeschraubt“, konzentriert sich also in den verbliebenen Teilen und manifestiert sich dort in intensiverer Form. Der Torso wird so zu einem Symbol für die Konzentration von Energie und Bedeutung.

Die zweite Strophe beschreibt die sinnliche Wirkung des Torsos auf den Betrachter. Der „Bug der Brust“ blendet, und ein „Lächeln“ geht von den Lenden aus, die „die Zeugung trug“. Diese Beschreibungen verweisen auf die erotische Anziehungskraft und die Lebenskraft, die von dem Fragment ausgehen. Die Betonung der körperlichen Aspekte unterstreicht die Vitalität und Vollkommenheit des verbliebenen Teils, obwohl das Ganze fehlt. Das Fehlen des Kopfes lenkt die Aufmerksamkeit weg von rationaler Interpretation und hin zu einer unmittelbaren, sinnlichen Erfahrung.

Die abschließenden Verse sind der entscheidende Wendepunkt. Ohne die transformative Kraft des Torsos wäre der Stein „entstellt und kurz“. Die Skulptur würde nicht die gleiche Strahlkraft entfalten und nicht „aus allen seinen Rändern / aus wie ein Stern“ brechen. Der Torso besitzt eine allumfassende Präsenz, die alles sieht und wahrnimmt. Die berühmte letzte Zeile „Du mußt dein Leben ändern“ ist daher nicht nur eine Aufforderung an den Betrachter, sondern ein Imperativ, der aus der intensiven Erfahrung mit dem Torso resultiert. Der Betrachter wird aufgefordert, sein eigenes Leben grundlegend zu überdenken und zu verändern, inspiriert durch die vollkommene Unvollkommenheit des Kunstwerks.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.