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Das Spiegelbild

Von

Schaust du mich an aus dem Kristall,
Mit deiner Augen Nebelball,
Kometen gleich die im Verbleichen;
Mit Zügen, worin wunderlich
Zwei Seelen wie Spione sich
Umschleichen, ja, dann flüstre ich:
Phantom, du bist nicht meinesgleichen!

Bist nur entschlüpft der Träume Hut,
Zu eisen mir das warme Blut,
Die dunkle Locke mir zu blassen;
Und dennoch, dämmerndes Gesicht,
Drin seltsam spielt ein Doppellicht,
Trätest du vor, ich weiß es nicht,
Würd‘ ich dich lieben oder hassen?

Zu deiner Stirne Herrscherthron,
Wo die Gedanken leisten Fron
Wie Knechte, würd‘ ich schüchtern blicken;
Doch von des Auges kaltem Glast,
Voll toten Lichts, gebrochen fast,
Gespenstig, würd‘, ein scheuer Gast,
Weit, weit ich meinen Schemel rücken.

Und was den Mund umspielt so lind,
So weich und hülflos wie ein Kind,
Das möcht‘ in treue Hut ich bergen;
Und wieder, wenn er höhnend spielt,
Wie von gespanntem Bogen zielt,
Wenn leis‘ es durch die Züge wühlt,
Dann möcht‘ ich fliehen wie vor Schergen.

Es ist gewiß, du bist nicht ich,
Ein fremdes Dasein, dem ich mich
Wie Moses nahe, unbeschuhet,
Voll Kräfte die mir nicht bewußt,
Voll fremden Leides, fremder Lust;
Gnade mir Gott, wenn in der Brust
Mir schlummernd deine Seele ruhet!

Und dennoch fühl‘ ich, wie verwandt,
Zu deinen Schauern mich gebannt,
Und Liebe muß der Furcht sich einen.
Ja, trätest aus Kristalles Rund,
Phantom, du lebend auf den Grund,
Nur leise zittern würd‘ ich, und
Mich dünkt – ich würde um dich weinen!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Das Spiegelbild von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Spiegelbild“ von Annette von Droste-Hülshoff befasst sich mit der komplexen Beziehung zwischen Identität, Selbstwahrnehmung und der unheimlichen Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild. Die Sprecherin beschreibt das Bild, das sie im Spiegel sieht, als etwas Unheimliches, das von „Kometen“ und „Nebelball“ geprägt ist – Metaphern, die auf die Flüchtigkeit und Unbeständigkeit des Abbildes hinweisen. Der Blick auf das Spiegelbild wird als eine Begegnung mit einem fremden, unerkennbaren „Phantom“ verstanden, das scheinbar nicht zu ihr gehört.

In der ersten Strophe wird das Spiegelbild als etwas Entfremdetes beschrieben, das in seiner „Wunderlichkeit“ zwei Seelen in sich vereint. Die Vorstellung, dass „zwei Seelen wie Spione sich umschleichen“, verweist auf die innere Zerrissenheit der Sprecherin, die sich nicht sicher ist, ob das Abbild sie widerspiegelt oder ein völlig anderes Wesen darstellt. Diese Dualität zwischen der realen Person und ihrem Spiegelbild wird durch die Frage, ob sie „lieben oder hassen“ würde, verstärkt – ein Zeichen für die innere Ambivalenz und den Konflikt, den die Sprecherin im Umgang mit ihrem eigenen Abbild empfindet.

In der zweiten Strophe wird der Spiegel als eine Quelle von Verwirrung und sogar als Bedrohung dargestellt. Der Blick auf das Spiegelbild – besonders die „kalte Glas-Stirne“ – erzeugt ein Gefühl der Entfremdung und des Unbehagens. Die „Frons“ der Gedanken werden durch die „Knechte“ symbolisiert, die sich der Herrschaft des Spiegels und des fremden Bildes unterwerfen. Der Spiegel ist nicht nur ein passives Abbild, sondern scheint eine aktive, nahezu bedrohliche Kraft zu haben, die die Sprecherin von sich selbst entfremdet.

Die vierte Strophe führt die Unterscheidung zwischen dem eigenen Selbst und dem Spiegelbild weiter, indem die Sprecherin den Mund des Abbildes als etwas beschreibt, das sowohl „weich und hilflos“ als auch „höhnend“ und gefährlich zugleich ist. Diese widersprüchlichen Eigenschaften verstärken das Gefühl der Zerrissenheit und des inneren Zwiespalts, das die Sprecherin gegenüber ihrem Spiegelbild empfindet. Der „Höhnende“ Mund wird als Ausdruck einer dunklen Seite verstanden, vor der sie sich fürchtet, während die weiche Seite des Mundes gleichzeitig die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit weckt.

Das Gedicht endet mit einer tiefen Reflexion über das Fremde und Unheimliche im eigenen Spiegelbild. Die Sprecherin erkennt, dass sie sich selbst nur schwer begreifen kann, da das Spiegelbild ein „fremdes Dasein“ darstellt, das nicht zu ihr zu gehören scheint. Es ist, als ob sie in dem Bild eine andere, verborgene Seite ihrer selbst sieht – eine „Schlummernde Seele“, die sie nicht ganz verstehen kann. Doch trotz dieser Fremdheit fühlt sie eine tiefe Verbundenheit mit dem Spiegelbild, das sich in einer Mischung aus Furcht und Liebe manifestiert. Der abschließende Satz „Mich dünkt – ich würde um dich weinen!“ drückt das paradoxe Gefühl der Trauer und Zuneigung aus, das sie für das Bild empfindet, das sie gleichzeitig ablehnt und doch zu lieben scheint. Die Spannung zwischen diesen gegensätzlichen Gefühlen verdeutlicht die Komplexität der Selbstwahrnehmung und die emotionale Zerrissenheit, die mit der Auseinandersetzung mit dem eigenen Spiegelbild einhergeht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.