An seinen Bruder
Auch dich hat, da du wardst geboren,
Die Muse lächelnd angeblickt;
Auch du hast dich dem Schwarm der Toren
Auf jungen Flügeln kühn entrückt!
Ihm nach, dem Liebling des Mäcenen!
Ihm nach, sein Name sporne dich!
Er lehrte dich, das Laster höhnen;
Er mache dich ihm fürchterlich!
O! schnitten wir mit gleichem Fluge
Die Lüfte durch zur Ewigkeit!
O! schilderte mit Einem Zuge
Zwei Brüder einst die Richterzeit!
»Die zwei, so soll die Nachwelt sprechen,
Betaumelte kein Modewahn,
Die Sprache schön zu radebrechen,
Zu stolz für eine Nebenbahn.«
Betritt der Alten sichre Wege!
Ein Feiger nur geht davon ab.
Er suchet blumenreichre Stege,
Und findet seines Ruhmes Grab.
Doch lerne früh das Lob entbehren,
Das hier die Scheelsucht vorenthält.
Gnug, wann versetzt in höhre Sphären,
Ein Nachkomm uns ins Helle stellt!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „An seinen Bruder“ von Gotthold Ephraim Lessing ist eine Ermahnung und ein Aufruf zur moralischen Integrität und künstlerischen Beständigkeit. Es wird von einem lyrischen Ich verfasst, das seinen Bruder ermutigt, sich der „Toren“ zu entziehen und einem edleren Weg zu folgen. Der Text ist von einer tiefen Verbundenheit und einem väterlichen Wunsch nach Erfolg und moralischer Größe geprägt.
Die ersten beiden Strophen etablieren das Motiv der Inspiration und des Vorbilds. Lessing erinnert seinen Bruder an die „Muse“, die ihn bei der Geburt anlächelte, und an seine Fähigkeit, sich von der Gesellschaft abzuheben. Das lyrische Ich erinnert an das Vorbild, das als „Liebling des Mäcenen“ (also als Gönner) verehrt wird, und mahnt, dessen Tugenden – insbesondere die Verachtung des Lasters – nachzueifern. Dies deutet auf einen Kampf gegen die negativen Einflüsse der Gesellschaft hin und auf die Bedeutung von moralischer Stärke. Der Appell ist von einem Wunsch nach gemeinsamer Größe und einem harmonischen Zusammenwirken geprägt.
Die dritte und vierte Strophe drücken den Wunsch nach einer gemeinsamen Reise durch das Leben und nach ewiger Anerkennung aus. Das lyrische Ich sehnt sich danach, dass die beiden Brüder gemeinsam in die Ewigkeit gelangen und von der Nachwelt als Menschen erinnert werden, die sich nicht von modischen Trends und oberflächlichen Werten haben verführen lassen. Die Betonung der Authentizität und die Ablehnung von „Modewahn“ und „Nebenbahn“ unterstreichen Lessings Wertschätzung für Originalität und die Ablehnung von Anpassung. Die Zeilen sind von einem tiefen Vertrauen in die Bedeutung der eigenen Werte und der Kunst als Mittel des Ausdrucks und der Überwindung der Zeit geprägt.
In den letzten beiden Strophen wird der Bruder zu einem konservativen Weg der Kunst und des Lebens angehalten. Die Warnung vor der Suche nach „blumenreichren Stegen“ und die Betonung der „sichren Wege“ der Alten sind ein Plädoyer für Beständigkeit und die Bewahrung von Traditionen. Lessing mahnt seinen Bruder, sich nicht von oberflächlichen Erfolgen blenden zu lassen und sich stattdessen auf langfristige Anerkennung zu konzentrieren. Die abschließenden Zeilen sind von einer gewissen Gelassenheit und einem Vertrauen in die langfristige Wirkung der eigenen Werke geprägt, indem sie die Wichtigkeit der Ehrung durch spätere Generationen betonen. Lessing zeigt hier die tiefe Sehnsucht nach bleibendem Wert und der Bedeutung des Schaffens für die Ewigkeit.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.