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An Julie Rettich

Von

I.

1863.

Der Zweifel, dessen düst′res Zeichen
In Nacht und Öde uns verbannt,
Kann nimmermehr ein Herz beschleichen,
Das dich, du Herrliche, erkannt!
Wie bitt′re Qual, wie tiefe Beugniß
Durch fremden Unwerth es erfuhr:
Du bist ihm ein lebendig Zeugniß
Des Adels menschlicher Natur!

Ein Licht scheint von dir auszugehen
Das jede Finsterniß erhellt,
Mit süßem Duft dich zu umwehen
Der Frühling einer schönern Welt.
Dein Geist ist′s, dessen kühnes Streben
Der Dinge tiefsten Kern durchdringt,
Die Seele ist′s, die alles Leben
Mit warmer Liebeshuld umschlingt!

Selbst in der Dichtung Zauberreichen
Weiß ich mit deinem hohen Sein
Ein Frauenbild nur zu vergleichen:
Nur Iphigenie allein!
Wie sie zum Priesterdienst erlesen,
Wie sie mit Gaben überhäuft,
Was Wunder, daß aus deinem Wesen
Derselbe Balsam niederträuft?!

II.

1869.

Der Wandel wohnet in des Menschen Brust,
Zum Traumbild wird uns, was wir einst besessen.
Das tiefste Weh, den bittersten Verlust,
Wir lernen sie verschmerzen und vergessen.
Des Lebens rasche Woge steigt und fällt,
Der Sehnsucht banger Flehensruf verklinget,
Und eine neue blüh′nde Welt entringet
Dem Schutt sich einer eingestürzten Welt.

Doch, wenn selbst der Erinn′rung Aschenrest
Die flücht′ge Zeit verstreut nach allen Winden,
Wenn Alles enden muß, warum nur läßt
Der Schmerz um dich sich nimmermehr verwinden?
Ist nicht Vergessen jedem Gram gewiß?
Warum erwacht mit jedem neuen Tage,
Nur herber, trauervoller stets die Klage,
Daß dich der Tod aus unserm Kreise riß?

Warum? Weil du in deiner Hoheit Schein,
Den Sternen ähnlich, die im Äther schweben,
Uns Licht gebracht in′s dunkle Erdensein,
Die sich′re Richtung treu uns angegeben!
Weil, seit dein großes Herz im Tode brach,
Wir die prophetenhafte Stimme missen,
Mit welcher unser eigenes Gewissen
Aus deinem Munde mahnend zu uns sprach.

Weil deiner Liebe reiches Liebesmal
Uns stets gewinkt nach allen Irrefahrten!
Weil wir gewohnt, in jeder Noth und Qual
Von dir Befreiung, Rettung zu erwarten!
Weil, wo kein Hoffen länger Wurzel schlug,
Dein mächtig′ Wort, lebend′ger Seele Odem,
Uns über allen Unglücks gift′gen Brodem
In′s Reich erlösender Gedanken trug.

Das ist′s! Wie heilte uns′re Wunde je
Von des Vergessens Nebelflor bedecket,
Da jede Trübung, jedes Lebensweh
Auf′s neue stets den Schmerz um dich erwecket?
Da wir, ach! länger nicht von dir gestützt,
Du Kraft der Schwachen, sehend Aug′ der Blinden!
In jedem Augenblicke neu empfinden,
Daß unser Engel uns nicht mehr beschützt? –

Fort geht des Lebens unbeirrter Lauf,
Manch′ werthe Gabe senket sich hernieder,
Es tauchen wechselnde Gestalten auf,
Doch deines Gleichen kehret nimmer wieder.
Das Herz, das einen Himmel in sich barg,
Des Menschenthumes wunderbarste Blüthe,
Das reinste Bild der Größe und der Güte
Zu Staub zerfallen sie in deinem Sarg′!

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Gedicht: An Julie Rettich von Betty Paoli

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „An Julie Rettich“ von Betty Paoli ist eine Hommage an eine verstorbene Freundin, die in zwei Teilen verfasst wurde, der erste 1863 und der zweite 1869. Die Dichterin verarbeitet in diesem Werk ihre tiefe Trauer und Sehnsucht nach der Verstorbenen und zeichnet gleichzeitig ein Bild von Julies außergewöhnlichem Charakter und dem bleibenden Einfluss, den sie auf das Leben der Dichterin und ihrer Mitmenschen ausübte.

Der erste Teil, der bereits 1863 entstand, feiert Julie als eine Person, die Zweifel und Dunkelheit mit ihrem „Licht“ und ihrer „Liebeshuld“ vertreiben konnte. Paoli vergleicht Julie mit Iphigenie, einer Figur, die für ihre Reinheit und ihren hohen moralischen Anspruch steht. Sie betont Julies Fähigkeit, die menschliche Natur zu adeln und eine Quelle der Inspiration und des Trostes zu sein. Dies deutet auf eine tiefe Bewunderung und eine spirituelle Verbundenheit hin, die über eine bloße Freundschaft hinausging.

Der zweite Teil, der sechs Jahre später geschrieben wurde, reflektiert die anhaltende Trauer der Dichterin über Julies Tod. Paoli thematisiert das Vergessen als natürlichen Prozess des Lebens, fragt aber, warum die Trauer um Julie nicht vergeht. Die Antwort findet sie in der einzigartigen Bedeutung, die Julie für ihr Leben hatte. Julie wird als ein „Stern“ beschrieben, der Licht und Orientierung gab, als eine „prophetenhafte Stimme“, die das Gewissen mahnte, und als eine Quelle der Hoffnung und Befreiung in Zeiten der Not.

Der Schluss des Gedichts ist von großer Tragik geprägt. Paoli erkennt, dass der Verlust Julies eine Lücke hinterlassen hat, die nicht gefüllt werden kann. Die Dichterin beklagt den unbeirrbaren Lauf des Lebens, der neue Gaben bringt, aber nie wieder eine Person vom Kaliber Julies hervorbringen wird. Das „Herz, das einen Himmel in sich barg,“ ist nun zu „Staub zerfallen“, was die Endgültigkeit des Todes und die Unersetzlichkeit des Verlusts betont. Das Gedicht ist somit eine ergreifende Auseinandersetzung mit Trauer, Erinnerung und der bleibenden Wirkung eines geliebten Menschen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.