Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , ,

An die meinige

Von

Legt man die Hand jetzt auf die Gummiwaren?
Erinnre, Claire, dich an deine Pflicht!
Das geht nicht so wie in den letzten Jahren:
Du bist steril, und du vermehrst dich nicht!

Wohlauf! Wohlan! Zu Deutschlands Ruhm und Ehren!
Vorbei ist nun der Liebe grüner Mai –
da hilft nun nichts: du mußt etwas gebären,
einmal, vielleicht auch zweimal oder drei!

Wir Deutschen sind die Allerallerersten,
voran der Kronprinz als Eins-A-Papa.
Der Gallier faucht – wir haben doch die mehrsten,
und hungern sie, mein Gott, sie sind doch da!

Denn sieh: die Babys brauchen Medizinen
und manchmal auch ein weiß Getöpf aus Ton,
Gebäck, das Milchgetränk – man kauft es ihnen,
und dann vor allem, Kind, die Konfektion!

Und wer soll in des Kaisers Röcken dienen,
umbrüllt vom Leutnant und vom General?
Stell du das her: es muß nur maskulinen
Geschlechtes sein – der Schädel ist egal.

Ins Bett! Hier hast du deine Wickelbinden!
Schenk mir den Leo nebst der Annmarei!
Und zählt man nach, wird man voll Freude finden
sechzig Millionen, und von uns
die zwei!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: An die meinige von Kurt Tucholsky

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „An die meinige“ von Kurt Tucholsky ist eine beißende Satire auf die nationalistische und militaristische Haltung im Deutschland der Weimarer Republik. Der Autor nutzt eine vermeintlich liebevolle Ansprache an seine Frau, um die verquere Ideologie der Zeit zu persiflieren und die Absurdität der Forderung nach rücksichtsloser Vermehrung des Volkes zu entlarven. Der Ton ist durchgängig ironisch, wobei die vermeintlich romantische Anrede in krassem Gegensatz zu den martialischen und materialistischen Inhalten steht.

Die ersten beiden Strophen setzen den Rahmen. Die Anrede „Claire“ wirkt zunächst vertraut und intim, wird aber sofort von der Aufforderung zur Geburtenförderung untergraben. Die Zeile „Du bist steril, und du vermehrst dich nicht!“ ist ein harter Angriff auf die persönliche Freiheit und die Intimität des Paares. Der Hinweis auf „Deutschlands Ruhm und Ehren“ offenbart die nationalistische Motivation, die der vermeintlichen Romantik zugrunde liegt. Die Liebe wird auf eine rein funktionale Ebene reduziert, nämlich die der Erzeugung von Nachwuchs für das Militär.

In den folgenden Strophen wird die Absurdität der Ideologie noch deutlicher. Die Bezugnahme auf den „Gallier“, also Frankreich, und die Überlegenheit der deutschen Geburtenrate, spiegelt den nationalistischen Anspruch der Zeit wider. Gleichzeitig wird die materielle Dimension der Kindererziehung betont: „Babys brauchen Medizinen“, „Gebäck, das Milchgetränk“, „die Konfektion“. Die letzte Strophe kulminiert in der Forderung nach männlichem Nachwuchs für das Militär und dem Appell an die Frau, Kinder zu „schenken“. Die ironische Schlusszeile über die „sechzig Millionen“ und die Rolle des Paares unterstreicht die völlige Entindividualisierung des Menschen und die Unterordnung unter die staatliche Ideologie.

Tucholsky bedient sich einer Vielzahl von Stilmitteln, um seine Satire zu verstärken. Der Reim, der Rhythmus und der scheinbar unbeschwerte Ton stehen im Kontrast zu der erschreckenden Botschaft. Die Verwendung von veralteten Ausdrücken wie „Wohlauf! Wohlan!“ und der pathetischen Wendung „zu Deutschlands Ruhm und Ehren“ verstärken den ironischen Effekt. Durch die scheinbar liebevolle Anrede wird die Banalität und Brutalität der Ideologie noch deutlicher hervorgehoben. Das Gedicht ist ein starkes Plädoyer für Individualität, Humanität und gegen die Verblendung durch nationalistische Propaganda.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.