Am See
Aachen, im August 1815.
Und wenn ich hier am Wasser steh′,
In diesem klaren Spiegel seh′
Den Himmel und die Bäume,
So zieht mich′s wol hinab, hinab,
Gern sänken in das feuchte Grab
Die Sehnsucht und die Träume.
Doch ist es nur ein eitler Wahn,
Dein eigen Bildniß schaust du an.
Und all das Sterngefunkel,
Mag′s locken dich zu Lust und Kuß,
Steig′ nicht hinab zum kalten Fluß,
Denn unten ist es dunkel.
Doch wenn ich vor der Liebsten steh′
Ihr in die klaren Augen seh′,
Das ist kein Traum, kein Wähnen.
Du mildes, frommes Angesicht,
Du Himmelsblick, du reines Licht,
Du täuschest nicht mein Sehnen.
Es ist nicht mehr mein armes Ich,
Das eitel in dem Spiegel sich,
Nur ewig sich beschauet:
Ein zweites Leben, das mir blüht,
Ein beßres, dran sich mein Gemüth
In Ewigkeit erbauet.
O süßer Bund von Ich und Du,
Nun fließe hin in Lust und Ruh
Mein liebes, schönes Leben!
O starker Bund von Eins und Zwei,
Daraus wird sich der heil′gen Drei
Vollkommne Zahl erheben.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Am See“ von Max von Schenkendorf ist eine Reflexion über Sehnsucht, Vergänglichkeit und die transformierende Kraft der Liebe. Der Autor, der im August 1815 in Aachen weilte, verbindet Naturbetrachtung mit inneren Gefühlen und einer tiefgreifenden Suche nach Sinn und Beständigkeit. Das Gedicht lässt sich in drei Hauptabschnitte unterteilen: die Betrachtung der Natur und die daraus resultierende Sehnsucht nach dem Tod, die Ablehnung dieses Gedankens und die Hinwendung zur Liebe als Quelle der Erneuerung und des ewigen Lebens.
In den ersten beiden Strophen wird die Natur als Spiegel der Seele dargestellt. Der Autor steht am See und beobachtet die Reflexion des Himmels und der Bäume. Dieses Bild erzeugt eine tiefe Sehnsucht, ein Verlangen nach dem Eintauchen in das Wasser, nach dem „feuchten Grab“. Diese Zeilen drücken eine melancholische Stimmung aus, ein Gefühl der Vergänglichkeit und der Leere. Der Autor erkennt jedoch, dass dieses Verlangen nach Auflösung in Wahrheit ein „eitler Wahn“ ist, eine Selbsttäuschung. Die Natur, so schön sie auch sein mag, ist nur ein Spiegelbild des eigenen Ichs, das sich in seiner Einsamkeit und seinem Leiden spiegelt. Der Autor warnt sich selbst, sich nicht von der Schönheit der Natur und den damit verbundenen Illusionen täuschen zu lassen.
Die zweite Hälfte des Gedichts vollzieht eine radikale Wende. Die Natur mit ihrer vergänglichen Schönheit wird durch die Liebe zur Geliebten ersetzt. In den Augen der Geliebten findet der Autor kein Spiegelbild seiner selbst, sondern ein „zweites Leben“, eine Quelle der Hoffnung und des Glücks. Ihre Augen sind „klar“, „mild“, „fromm“ und „rein“, was eine Atmosphäre der Echtheit und Unschuld schafft. Die Liebe befreit das „arme Ich“ von seiner Eitelkeit und Selbstbespiegelung. Sie ermöglicht ein „bessres“ Leben, in dem sich das „Gemüth“ in Ewigkeit erbauen kann.
Die letzten beiden Strophen feiern die Vereinigung von Ich und Du als eine Quelle unendlicher Freude und innerer Ruhe. Die Metapher des „süßen Bunds“ und des „starken Bunds von Eins und Zwei“ deutet auf die heilige Natur der Liebe hin. Die „vollkommne Zahl“ Drei, die sich aus dieser Vereinigung ergibt, steht möglicherweise für die Dreifaltigkeit des göttlichen, oder aber für die Vollkommenheit und Ganzheit, die in der Liebe gefunden wird. Schenkendorf findet also in der Liebe die Überwindung der Vergänglichkeit und die Erfüllung der Sehnsucht, die ihn zu Beginn des Gedichts quälte. Die Liebe wird somit zum Anker der Hoffnung und zum Wegweiser zu einem tieferen, sinnvolleren Leben.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.