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Alte und neue Kinderzucht

Von

I

In seiner Buchenhalle saß ein Greis auf grüner Bank,
Vor ihm, in grünlichem Pokal, der Rebe Feuertrank;
Zur Seite seiner Jugend Sproß, sich lehnend an den Zweigen,
Ein ernster Vierziger, vernahm des Alten Wort in Schweigen.

»Sohn«, sprach der Patriarch, es klang die Stimme schier bewegt:
»Das Kissen für mein Sterbebett, du hast es weich gelegt;
Ich weiß es, eine Träne wird das Leichentuch mir netzen,
In meinen Sessel wird dereinst ein Ehrenmann sich setzen.

»Zu Gottes Ehr′ und deiner Pflicht und nach der Vordern Art
Zog ich in aller Treue dich, als schon dein Kinn behaart.
Nicht will die neue Weise mir zum alten Haupte gehen,
Ein Sohn hat seinen Herrn, so lang zwei Augen offen stehen.

»Mein Vater, — tröst′ ihn Gott, er fiel in einem guten Strauß! —
War Diener seinem Fürsten und ein König seinem Haus,
Sein treues Auge wußte wohl der Kinder Heil zu wahren,
Den letzten Schlag von seiner Hand fühlt′ ich mit zwanzig Jahren.

»So macht′ er mich zum Mann, wie du, mein Sohn, zum frohen Greis,
Zum Mann, der tragen kann und sich im Glück zu fassen weiß.
Wie mag, wer seiner Launen Knecht, ein Herrenamt bezwingen?
Wer seiner Knospe Kraft verpraßt, wie möcht′ er Früchte bringen?

»Nur von der Pike dient sich′s recht zum braven General.
Gesegnet sei die Hand, die mir erspart der Torheit Wahl!
Mit tausend Tränen hab′ ich sie in unsre Gruft getragen;
Denn eines Vaters heil′ge Hand hat nie zu hart geschlagen.

»Mein Haar ist grau, mein blödes Aug′ hat deinen Sproß gesehn;
Bald füllst du meinen Sitz, und er wird horchend vor dir stehn.
Gedenk der Rechenschaft, mein Sohn, lehr′ deinen Blick ihn lesen,
Gehorsam sei er dir, wie du gehorsam mir gewesen!«

So sprach der Patriarch und schritt entlang die Buchenhall′,
Ehrfürchtig folgte ihm der Sohn, wie Fürsten der Vasall,
Und seinen Knaben winkt er sacht herbei vom Blütenhagen,
Ließ küssen ihn des Alten Hand und seinen Stab ihn tragen.

II

An blühender Akazie lehnt ein blonder, bleicher Mann,
Sehr mangelt ihm der Sitz, allein die Kinder spielen dran;
So schreibt er stehend, immer Ball und Peitschenhieb gewärt′gend,
Schnellfingrig für die Druckerei den Lückenbüßer fert′gend:

»In Osten steigt das junge Licht, es rauscht im Eichenhain,
Schon schlang der alte Erebus die alten Schatten ein,
Des Geistes Siegel sind gelöst, der Äther aufgeschlossen,
Und aus vermorschter Dogmen Staub lebend′ge Zedern sprossen.

»O Geistesfessel, härter du als jemals ein Tyrann,
Geschlagen um des Sklaven Leib, du tausendjähr′ger Bann!
Geheim doch sicher hat der Rost genagt an deinem Ringe,
Nun wackelt er und früchtet sich vor jedes Knaben Klinge!

»Hin ist die Zeit, wo ein Gespenst im Büßermantel schlich,
In seinen Bettelsack des Deutschen Gold und Ehre strich,
Wo Greise, Schulmonarchen gleich, die stumpfe Geißel schwenkten,
Des Sonnenrosses Zaum dem Grab verfallne Hände lenkten.

»Nicht wird im zarten Kinde mehr des Mannes Keim erstickt,
Frei schießt die Eichenlode, unbeengt und ungeknickt;
Was mehr als Wissen, wirkender als Gaben, die zerstückelt —
Des kräft′gen Wollens Einheit wird im jungen Mark entwickelt.

» Wir wuchsen unter Peitschenhieb an der Galeere auf,
Und dennoch riß das Dokument vom schnöden Seelenkauf
Durch deutsche Hand, durch unsre Hand, die, nach Ägyptens Plagen,
Noch immer stark genug, den Brand ans Bagnotor zu tragen!

»Ihr aber, die den ganzen Saft der Muttererde trinkt,
An deren Zweig das erste Blatt schon wie Smaragde blinkt,
Ihr« — unser Dichter stutzt — er hört an den Holundersträuchen
Sein Erstlingsreis, den Göttinger, wie eine Walze keuchen.

Und auf der Bank — sein Manuskript — o Pest! sein Dichterkranz, —
Dort fliegt er, droben in der Luft, als langer Drachenschwanz!
Und — was? ein Guß? — bei Gott, da hängt der Bub, die wilde Katze,
Am Ast und leert den Wasserkrug auf seines Vaters Glatze!

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Gedicht: Alte und neue Kinderzucht von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Alte und neue Kinderzucht“ von Annette von Droste-Hülshoff ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit den gegensätzlichen Erziehungsmethoden zweier Generationen, die in zwei unterschiedlichen Teilen dargestellt werden. Der erste Teil zeigt einen Patriarch, der in der Tradition verwurzelt ist und seinen Sohn nach strengen Prinzipien erzogen hat, die auf Gehorsam, Respekt vor Autorität und Tradition basieren. Der zweite Teil präsentiert einen modernen Vater, der sich gegen diese autoritäre Erziehung wendet und die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Kinder hervorhebt.

Die beiden Teile des Gedichts stehen in starkem Kontrast zueinander. Der erste Teil ist geprägt von der Ehrfurcht vor dem Alter und der traditionellen Ordnung. Der Patriarch, ein Mann mit grauem Haar, erinnert sich an seine eigene strenge Erziehung durch seinen Vater und betont die Bedeutung von Gehorsam und Pflichterfüllung. Er sieht in der neuen Erziehung, die er als zu lasch empfindet, eine Gefahr für die Werte, die er selbst als wichtig erachtet. Seine Sprache ist formell und feierlich, was die Schwere und Ernsthaftigkeit seiner Botschaft unterstreicht. Der zweite Teil hingegen ist von Aufbruchstimmung und Fortschrittsgläubigkeit geprägt. Der blonde, bleiche Mann, der moderne Vater, steht für die neue Generation und deren Ideen. Er kritisiert die autoritäre Erziehung als „Geistesfessel“ und preist die Freiheit und das Potenzial der Kinder.

Die unterschiedlichen Erziehungsideale werden durch die symbolische Darstellung der jeweiligen Lebensumstände verstärkt. Der Patriarch sitzt in einer Buchenhalle, einem Ort der Ruhe und Tradition, während der moderne Vater an einer Akazie steht, einem Baum, der oft mit Jugend und Veränderung assoziiert wird. Die Gegenüberstellung der beiden Väter und ihrer Erziehungsmethoden deutet auf einen fundamentalen Generationenkonflikt hin, der sich in der Frage der Kinderzucht manifestiert. Die Verwendung von Metaphern, wie zum Beispiel die „Geistesfessel“ oder die „Eichenlode“, verdeutlicht die unterschiedlichen Weltanschauungen und Werte der beiden Generationen.

Das Gedicht endet mit einer ironischen Pointe, die die Diskrepanz zwischen den Idealen des modernen Vaters und der Realität der Kindererziehung aufzeigt. Während der Vater seine radikalen Ideen von Freiheit und Selbstbestimmung verkündet, wird er von seinem eigenen Sohn, einem „wilden Kater“, mit Wasser übergossen. Diese Szene unterstreicht die Komplexität der Erziehung und die Schwierigkeit, theoretische Ideale in der Praxis umzusetzen. Sie suggeriert, dass auch die neuen Erziehungsmethoden ihre Grenzen haben und dass die Kindererziehung immer ein Balanceakt zwischen Freiheit und Grenzen, Tradition und Fortschritt darstellt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.