Alp
Ich stellte den Stuhl nicht an die Wand,
Und wandte die Schuh am Bett nur halb,
Und nahm den Daumen nicht in die Hand,
Da kam des Nachts der böse Alp.
Er bohrte durch ein Wandloch sacht,
Ich dacht, und nahm es genau in acht:
»Sollst dich auf mir nicht wiegen,
Wart, wart, ich will dich kriegen!«
Und als er zur Wand hereingeschlüpft,
Und auf den Zehen leise ging,
Da war ich zum Loch an der Wand gehüpft
Und stopft es zu, da schrie das Ding
Mit seiner Stimm: »o Pein, o Pein,
Nun muß ich hier gefangen sein!
O weh, wie werden weinen
Zu Hause meine Kleinen! –
»O Menschlein, wimmert er bitterlich:
Hab sieben Kinderchen zu Haus,
Die müssen verhungern fürchterlich,
O Menschenkind, laß mich hinaus.«
Da sprach ich: »komm nicht wieder herein.«
Da sprach er: »nein, gewiß nicht, nein.«
Kaum daß ich ihm aufmachte . . .
Husch! war er hinaus, und lachte. –
Und wie er so lachte, ging ich nach,
Und als ich vor die Haustür kam,
War er schon unten an dem Bach:
Ich sah, wie er ein Ruder nahm,
Und lief hinab und hielt den Kahn:
Da winselt er von neuem dort
Und sah zuletzt mich drohend an.
Ich ließ den Kahn, – da glitt er fort! –
Mich überkam ein Grauen
Vor seinen Augenbrauen!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Alp“ von August Kopisch erzählt in humorvoller und doch unheimlicher Weise von der Begegnung des lyrischen Ichs mit einem Alp, einem Nachtmahr. Die Geschichte beginnt mit scheinbar banalen Vorsichtsmaßnahmen vor dem Schlafengehen, die jedoch die Grundlage für das nächtliche Erscheinen des Alps bilden. Der Alp wird als eine Kreatur geschildert, die durch ein Wandloch schlüpft und das lyrische Ich bedrängt. Die Szenerie ist von Anfang an aufgeladen mit einer Mischung aus kindlicher Furcht und dem Versuch, sich der Bedrohung durch kluge Vorgehensweise zu entziehen, wodurch der Leser unmittelbar in die Handlung hineingezogen wird.
Die Interaktion zwischen dem lyrischen Ich und dem Alp ist von einem ständigen Wechselspiel geprägt. Zuerst versucht das lyrische Ich, den Alp durch das Zuschließen des Lochs zu fangen. Der Alp hingegen gibt sich als bemitleidenswertes Wesen aus, das um seine Familie fürchtet und bittet um Freilassung. Das lyrische Ich gewährt dem Alp, nach dessen Beteuerung, nicht wiederzukehren, die Freiheit. Doch kaum befreit, entpuppt sich der Alp als listig und hinterhältig, was durch sein Lachen und die folgende Szene am Bach verdeutlicht wird. Diese Wendung verstärkt das Gefühl der Verunsicherung und des Verrats.
Die zweite Hälfte des Gedichts verlagert die Szene an einen Bach, wo der Alp ein Ruder an einem Kahn nimmt. Das lyrische Ich versucht, den Kahn zu blockieren, doch der Alp reagiert mit erneuter Verzweiflung. Das lyrische Ich, verängstigt von der Bedrohlichkeit des Alps, insbesondere von dessen „Augenbrauen“, gibt den Kahn frei. Das Ende des Gedichts lässt den Leser im Unklaren, was die wahre Natur des Alps ist und welche weiteren Auswirkungen dessen Taten haben könnten.
Kopisch bedient sich einer einfachen, klaren Sprache, die jedoch von subtilen Andeutungen und einem raffinierten Einsatz von Reim und Rhythmus durchzogen ist. Die wechselnden Emotionen des lyrischen Ichs, von anfänglicher Vorsicht über das Mitleid bis hin zur Angst, spiegeln die Unberechenbarkeit des Alps wider. Die Verwendung von kindlichen Vorsichtsmaßnahmen und die Darstellung des Alps als sowohl bedrohlich als auch bemitleidenswert erzeugen eine besondere Spannung. Das Gedicht spielt mit der kindlichen Angst vor dem Unbekannten und der Faszination durch das Fantastische.
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Lizenz und Verwendung
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