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Der Angetrunkene

Von

Man muß sich so sehr hüten, daß man nicht
Ohn jeden Anlaß aufbrüllt wie ein Tier.
Daß man der ganzen Kellnerschaft Gesicht
Nicht kurz und klein haut, übergießt mit Bier.

Daß man sich nicht die ekle Zeit verkürzt,
Indem man sich in einen Rinnstein legt.
Daß man sich nicht von einer Brücke stürzt.
Daß man dem Freund nicht in die Fresse schlägt.

Daß man nicht plötzlich unter Hundswauwau
Die Kleider sich vom feisten Leibe reißt.
Daß man nicht irgendeiner lieben Frau
Den finstern Schädel in die Schenkel schmeißt.

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Gedicht: Der Angetrunkene von Alfred Lichtenstein

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Angetrunkene“ von Alfred Lichtenstein ist eine düstere, satirisch überzeichnete Momentaufnahme seelischer Enthemmung und innerer Zerrissenheit. In knappen, beinahe grob wirkenden Versen beschreibt das lyrische Ich die ständige Anstrengung, sich trotz Alkoholrausches und innerer Leere im Griff zu behalten. Die Sprache ist provokant und bewusst vulgär, was auf eine tiefere Verzweiflung unter der Oberfläche hinweist.

Der Text arbeitet mit einer Wiederholung des Satzanfangs „Daß man nicht…“, wodurch der Eindruck einer eskalierenden Selbstdisziplinierung entsteht. Die aufgeführten Impulse – Gewalt, Selbstzerstörung, sexuelle Enthemmung – erscheinen nicht bloß als hypothetische Möglichkeiten, sondern als drängende Versuchungen eines labilen Geisteszustands. Diese drastischen Bilder bringen eine existenzielle Not zum Ausdruck: Der Mensch scheint kurz davor zu stehen, jegliche gesellschaftliche Fassade fallen zu lassen.

Lichtenstein, ein Vertreter des literarischen Expressionismus, zeigt in diesem Gedicht die Abgründe hinter der modernen Großstadterfahrung. Der „Angetrunkene“ ist mehr als nur betrunken – er ist ein Symbol für Entfremdung, innere Vereinsamung und den Zusammenbruch von Normen. Die gewählten Bilder – etwa das sich „in den Rinnstein legen“ oder der Gedanke an Selbstmord – sind nicht nur Ausdruck des Rausches, sondern Spiegel einer Welt, in der Orientierung und Halt verloren gegangen sind.

So wirkt das Gedicht auf den ersten Blick grotesk und provokant, offenbart jedoch bei näherer Betrachtung eine tiefere Tragik. Es zeigt einen Menschen, der mit aller Kraft versucht, nicht den Halt zu verlieren – und der gerade dadurch erschreckend nah am Abgrund steht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.