Aderlässe
Des Lebens Purpurstrahl
Fährt schäumend aus der kleinen Ritze;
O Schöpfer! wann verfliegt einmal
Dies Blut, das ich in fauler Rast versprütze?
Soll alle meine Kraft
Im Feuer banger Qualen schmelzen?
Gebricht′s nicht bald an neuem Saft,
Die Kügelchen des Blutes fortzuwälzen?
Du bist so heiß, o Blut!
Was sprudelst du in dieser irdnen Schale?
Hast du noch Gluth, noch Sonnengluth?
Zückt Freiheit noch in deinem rothen Strahle?
O Arzt! so binde du
Nur schnell, nur schnell mit deiner Binde
Die offne Ader wieder zu:
Denn Freiheit ist des Deutschen größte Sünde.
Doch willst du nimmer heiß,
O Blut! aus deinen Röhren schiessen;
Willst frostig, wie zerschmolznes Eis
Vom nackten Fels, in kalten Tropfen fliessen:
So fliesse, fliesse nur –
Kein Fürst wird deine Kälte strafen;
Denn kalte, frostige Natur
Schickt sich allein für arme deutsche Sklaven.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Aderlässe“ von Christian Friedrich Daniel Schubart ist eine tiefgründige Reflexion über die Lebenskraft, die Freiheit und die politische Situation im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts. Das Gedicht beginnt mit einem kraftvollen Bild des „Purpurstrahls“ des Lebens, das aus einer „kleinen Ritze“ austritt, was auf das Potenzial und die Unmittelbarkeit des Lebens hinweist. Der Autor fragt sich nach der Vergeblichkeit des Lebens, angesichts des „Blutes, das ich in fauler Rast versprütze“, was auf eine innere Unruhe und Unzufriedenheit hindeutet.
Der zweite Teil des Gedichts thematisiert die innere Zerrissenheit und die Frage nach der Kraft des Lebens. Das „Feuer banger Qualen“ deutet auf die Leiden und Ängste hin, die das Leben begleiten. Die Frage, ob es „bald an neuem Saft“ gebricht, deutet auf die Angst vor dem Verlust der Lebenskraft und der Fähigkeit, das Leben in vollen Zügen zu erfahren. Das Gedicht wirft die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Leidens und der Erhaltung der Lebensenergie auf, die durch die metaphorischen „Kügelchen des Blutes“ repräsentiert werden. Der Dichter fragt nach der Natur des Blutes, nach seiner Hitze und seinem Potenzial zur Freiheit, welches durch das Wort „Freiheit“ repräsentiert wird.
Im zentralen Teil des Gedichts wird die politische Dimension deutlich. Die „offne Ader“ symbolisiert hier die Lebensader des deutschen Volkes, und die Bitte des Arztes, sie zu schließen, steht für die Unterdrückung und den Verzicht auf Freiheit. Die Aussage „Denn Freiheit ist des Deutschen größte Sünde“ ist eine bittere Anklage an die politische Situation, in der Freiheit als gefährlich und unerwünscht dargestellt wird. Dies deutet auf die Zensur, die Repression und die autoritären Strukturen im damaligen Deutschland hin.
Der abschließende Teil des Gedichts bietet eine düstere Vision der Zukunft. Wenn das Blut kalt wird und als „zerschmolznes Eis“ dahinrinnt, wird die Freiheit endgültig aufgegeben. Die Aussage „Denn kalte, frostige Natur / Schickt sich allein für arme deutsche Sklaven“ ist eine erschreckende Diagnose. Sie offenbart die resignierte Erkenntnis, dass ein Volk, das seine Freiheit nicht wertschätzt und seine Lebenskraft unterdrückt, dazu verdammt ist, in Sklaverei zu leben. Das Gedicht ist somit eine eindringliche Mahnung an die Bedeutung von Freiheit und Lebenskraft und eine Kritik an der Unterdrückung und Passivität des deutschen Volkes.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.